NZZ Geschichte, 6. Juli 2017, Seite 6
Im vierten Band seiner monumentalen Geschichte des Niedergangs und Endes des Römischen Reichs, erschienen 1788, gelangt der grosse englische Historiker Edward Gibbon an den Punkt, an dem im ausgehenden 5. Jahrhundert das weströmische Kaisertum für immer erlosch. Bevor Gibbon sich nun endgültig der Geschichte von Byzanz zuwendet, hält er kurz inne, um im Rückblick auf mehr als vierhundert Jahre römischer Geschichte darüber nachzudenken, was aus den von ihm geschilderten «furchtbaren Umwälzungen» für die Gegenwart und Zukunft seiner Zeit zu lernen sei. Zwar sei es, so Gibbon, «die Pflicht des Patrioten, allein das Interesse und den Ruhm seines Vaterlandes im Sinn zu haben und zu fördern; aber dem Wissenschaftler mag es erlaubt sein, seinen Blick zu weiten und Europa als eine einzige grosse Republik zu betrachten, deren unterschiedliche Bewohner annähernd dasselbe zivilisatorische und kulturelle Niveau erreicht haben». Gibbon übrigens war Patriot und Europäer zugleich: Er gehörte zeitweise dem britischen Unterhaus an, verbrachte aber viele Jahre in der Schweiz und schrieb nicht nur auf Englisch, das er in unvergleichlicher Eleganz beherrschte, sondern auch auf Französisch – sogar sein Hauptwerk, von dem hier die Rede ist, hätte er beinah auf Französisch verfasst. Weiterlesen →