Der demokratische Kapitalismus lebt von geliehener Zeit

Dagbladet, 6. Juli 2013 (auf Dänisch veröffentlicht in Ausschnitten; im Folgenden das ganze Interview)

Ich habe in Erinnerung, dass die dänische Staatsministerin bei ihrem Antrittsbesuch bei Frau Merkel die Eurokrise als „Disziplinkrise” diagnostiziert hat. In welchem Maße treibt diese Diagnose die politische Elite in Europa immer noch? Gibt es eine wohlbegründete Hoffnung, dass die politische Elite Europas eine andere Diagnose befürworten könnte – und wenn nicht, wieso?

In Wahrheit entsteht die Krise natürlich nicht durch mangelnde Disziplin, sondern durch unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit. Der Euro zwingt die Weichwährungsländer der europäischen Peripherie unter ein Hartwährungsregime, unter dessen Diktat sie viel Geld von außen brauchen, wenn sie nicht immer weiter zurückfallen sollen. Aus nördlichen Steuergeldern ließ und lässt sich das nicht finanzieren; deshalb war man damals froh, dass die Währungsunion den Südländern zu erheblich verbesserten Konditionen Zugang zu den internationalen Kreditmärkten verschaffte. So konnten sie sich dann deutsche und andere Exportgüter leisten. Jeder hat gesehen, wie die Länder der Peripherie, ob Staaten oder Banken oder Unternehmen, um 2000 herum begannen, sich mit billigem Geld vollzusaugen, oft zu negativen Realzinsen, das ihnen von den Goldmännern bereitwillig zur Verfügung gestellt wurde. Bereitwillig, weil man Gründe hatte zu glauben, dass der Norden – No-Bailout-Klausel hin oder her – im Zweifelsfall dazu gebracht werden könnte einzuspringen. Das tut er nun ja auch – nur dass es indirekt hinter verschlossenen Tresortüren durch Geldschöpfung im Arkanbereich der EZB passiert. Weiterlesen

Moral Categories in the Financial Crisis

With Marion Fourcade, Philippe Steiner and Cornelia Woll. In: Socio-Economic Review, Vol. 11 (2013), No. 3, 601-627. Also as Discussion Paper 13/1, Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies, June 2013

Abstract: Karl Marx observed long ago that all economic struggles invite moral struggles, or masquerade as such. The reverse may be true as well: deep moral-political conflicts may be waged through the manipulation of economic resources. Using the recent financial and Eurozone crises as empirical backgrounds, the four papers gathered here propose four different perspectives on the play of moral judgments in the economy, and call for broader and more systematic scholarly engagement with this issue. Focusing on executive compensation, bank bailouts, and the sovereign debt crisis, the symposium builds on a roundtable discussion held at the opening of the Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris on November 29, 2012.

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„Die Währungsunion treibt die Länder Europas auseinander“

Goethe Institut Online, Juni 2013

Herr Professor Streeck, Märchen sind schön, manchmal auch schaurig, haben aber alle eines gemeinsam – sie sind frei erfunden. Ist die Geschichte, die man uns vor der Einführung des Euro erzählt hat, nämlich dass die gemeinsame Währung die europäische Einigung vertiefen werde, so gesehen auch nur ein Märchen?

Es war eine Hoffnung — allerdings eine von Land zu Land verschiedene. Frankreich und andere versprachen sich von der Währungsunion ein Ende der deutschen Dominanz in der Geldpolitik, während Deutschland auf eine Europäisierung seiner traditionellen Hartwährungspolitik hoffte. Heute, nach zehn Jahren Gemeinschaftswährung, lässt sich dieser Konflikt endgültig nicht länger unter den Formelkompromissen der 1990er Jahre verstecken. Während die deutsche Wirtschaft mit ihrer stark auf die verarbeitende Industrie ausgerichteten Struktur gut mit einer restriktiven Geldpolitik zurechtkommt, sind andere Länder der Eurozone unter solchen Bedingungen nicht „wettbewerbsfähig“ und drohen immer weiter zurückfallen. Mit dem guten Rat, der ihnen aus Berlin und Brüssel aufgedrängt wird — sich durch „Strukturreformen“ nach deutschen Vorbild markt- und eurofähig umzubauen — können sie aus vielerlei Gründen nichts anfangen. So treibt die Währungsunion die Länder Europas auseinander, statt sie zusammenzuführen. Weiterlesen

„Der Euro ruiniert die Peripherie“

Der Freitag, 6. Juni 2013 

Herr Streeck, nicht nur ist die deutsche Wirtschaft ein Exportwunder, wir nähern uns sogar der Vollbeschäftigung. Wie passt das mit Ihrer Krisendiagnose zusammen?

Das deutsche Beschäftigungsniveau ist ein Phänomen, das nur innerhalb des Eurolandes verstanden werden kann. Es ist ungefähr so wie zur Zeit der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland, als in Baden-Württemberg Vollbeschäftigung herrschte und andere Teile des Landes, Stichwort Neue Länder, mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten. Will heißen: Unser Wohlstand muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Wir haben es mit einem hohen regionalen Ungleichgewicht innerhalb des einheitlichen Wirtschaftsraums der Währungsunion zu tun. Weiterlesen

Die Krise der Staatsfinanzen: Demokratieversagen? Kapitalismusversagen!

In: Der moderne Staat 6, 2013, H. 1, 7-20. Auch in: Nonnenmacher, Günther und Andreas Rödder (Hg.), Kapitalismus und Demokratie: Vierte Tendenzwende-Konferenz der F.A.Z. am 15. und 16. November 2012 in Berlin. Frankfurt: F.A.Z., 2013, 14-20

Abstract: Die gegenwärtige Krise der Staatsfinanzen geht nicht, wie von der Public Choice-Theorie suggeriert, auf ein Versagen der Demokratie zurück. Vielmehr ist sie eine Begleiterscheinung des langen Abschieds des westlichen Kapitalismus von seiner Keynesianischen Wachstums- und Wohlfahrtsphase und geht mit langfristigen Verteilungsverlusten breiter Teile der Bevölkerung in den kapitalistischen Demokratien einher. Akut wurde sie nicht durch überzogene Forderungen von Wählern und politischen Parteien, sondern durch den Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte. Vielfältige, auch national unterschiedliche unmittelbare Ursachen der Fiskalkrise stehen in Zusammenhang mit einer allgemeinen letzten Ursache, dem säkularen Rückgang der Wachstumsdynamik und damit der sozialen Integrationsfähigkeit des sich liberalisierenden Kapitalismus.

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Nach der Krise ist in der Krise: Aussichten auf die Innenpolitik des europäischen Binnenmarktstaats

Leviathan 41(2), 2013, 324-342

Abstract: Die Währungsunion schließt eine Abwertung von Währungen im Verhältnis zwischen ihren Mitgliedstaaten aus. Der Artikel erkundet die absehbaren Konsequenzen für die innenpolitischen Konfliktlinien und die sich abzeichnende Finanzverfassung der staatlichen Ordnung des Binnenmarktes über die gegenwärtige Krise hinaus. Die derzeit stattfindende »innere Abwertung« in den Ländern der Peripherie wird mit tiefen marktkonformen Strukturreformen einhergehen müssen, wenn eine dauerhafte Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Währungsunion erreicht werden soll. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Norden zum Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und zur Sicherung politischer Stabilität wird dies nicht möglich sein. Der Artikel unternimmt den Versuch, die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten einer auf Angleichung der Lebensverhältnisse gerichteten zwischenstaatlichen Entwicklungspolitik in der Europäischen Währungsunion am Beispiel der regionalpolitischen Erfahrungen der Nationalstaaten Deutschland und Italien abzuschätzen.

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„Wir haben eine Diktatur der Finanzmärkte“

Tagesanzeiger, 9. März 2013

In Ihrem gerade erschienenen Buch «Gekaufte Zeit» kritisieren Sie die Austeritätspolitik, die die EU den Südstaaten Europas aufzwingt. Aber ist die nicht ein Erfolg? Verbessern sich nicht die Kennzahlen dieser Länder, ist nicht in der Finanzkrise Ruhe eingekehrt?

Wieso es sich um «Ruhe» handeln soll, wenn in Spanien und Griechenland 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos sind, entzieht sich mir. Die Zinssätze verbessern sich, weil die Europäische Zentralbank den Gläubigern die Rückzahlung ihrer Darlehen garantiert hat, letzten Endes auf Kosten der Steuerzahler in den nördlichen Ländern. Die Leistungsbilanz Griechenlands und anderer Länder verbessert sich, weil die Löhne, Renten und Gesundheitsausgaben so gekürzt wurden, dass breite Kreise der Bevölkerung in Armut leben. Weiterlesen

Der Euro als frivoles Experiment

Die Wochenzeitung 4/2013

Die Einführung des Euro um die Jahrtausendwende, die den europäischen Binnenmarkt vollenden sollte, schuf eine politische Jurisdiktion, die dem Ideal einer durch Politik von Politik befreiten Marktwirtschaft sehr nahe kommt. Eine politische Ökonomie ohne Parlament und Regierung, zusammengesetzt zwar aus nach wie vor formal unabhängigen Nationalstaaten, die aber für immer auf eine eigene Währung verzichtet haben. Und damit auf die Möglichkeit, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Bürgerinnen und Bürger das Mittel der Abwertung ihrer Währung einzusetzen. Weiterlesen