Falscher Fortschrittsglaube

Handelsblatt, 31. Oktober 2014

Nicht jede Krise endet mit einer Lösung: nach der Krise kann vor der Krise sein. Manchmal endet eine Krise aber auch mit einem Ende. Dass der Kapitalismus von heute sich in einer Krise befindet, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Aber geht es mit ihm zuende? Seit es den Kapitalismus als Gesellschaft gibt, also seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, wurde ihm sein bevorstehender Untergang vorhergesagt: von John Steward Mill, Karl Marx, Max Weber, Joseph Schumpeter, John Maynard Keynes und anderen. Heute, durch Erfahrung klug geworden, zögern wir, uns in dieser Hinsicht festzulegen. Dies, obwohl wir wissen, dass es sich bei der kapitalistischen Gesellschaft, wie bei jeder anderen, um eine historische Formation handelt, die einen Anfang hatte und deshalb auch ein Ende haben müsste. Weiterlesen

Abschiedsvorlesung: „Gesellschaftssteuerung heute“

Abschiedsvorlesung als Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, 30. Oktober 2014

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2015, 63-80

Als ich anfing, Soziologie zu studieren, im Jahr 1966, habe ich mir das Fach mehr oder weniger als wissenschaftliche Anleitung zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorgestellt. Im Hintergrund meiner Entscheidung für die Soziologie stand eine Überzeugung, die sich irgendwie in den Teilen meiner Generation verbreitet hatte, die später die „68er“ genannt werden sollten: dass die demokratischen Freiheiten, die sozialen Rechte der „kleinen Leute“ und die neue Friedfertigkeit der damaligen Gesellschaft prekär waren und verteidigt werden mussten; dass dies von den damals Regierenden nicht unbedingt zu erwarten war; und dass ohne breite politische Beteiligung von unten die Katastrophen der nahen Vergangenheit, die man nicht mehr miterlebt hatte, deren Spuren aber noch überall zu besichtigen waren, sich wiederholen könnten. Von der Soziologie insbesondere erhoffte man sich Aufklärung über den tatsächlichen Charakter der Gesellschaft, in der man lebte: über das, was einem von denen, die Bescheid wussten, verschwiegen wurde, und darüber, welche Kräfte einer besseren Zukunft im Wege standen und wie man mit diesen fertig werden konnte – ein Wissen, das man an diejenigen weitergeben wollte, die noch keinen Zugang zu ihm hatten. Theoretische, politische und technische Fragen verschoben sich ineinander und waren am Ende nicht mehr zu unterscheiden: Wie war es um die tatsächlichen Machtverhältnisse in der Nachkriegsgesellschaft bestellt? Wer regierte wirklich? Was stand hinter dem Antikommunismus der Lehrpläne und der herrschenden Rhetorik? Was musste man lernen, was musste wer tun, um autoritäre Traditionen zu beenden, den gesellschaftlichen Fortschritt voranzubringen und der Ungleichheit der Klassenlagen und Lebenschancen ein Ende zu setzen? (…)

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Capitalism, neo-liberalism and democracy: Wolfgang Streeck interviewed by Ben Jackson

Interview in Renewal 22 (3/4), Fall 2014

In your new book Buying Time (Streeck, 2014) you take as a starting point the theories of authors such as Jürgen Habermas, Claus Offe and James O’Connor from the 1970s. Such authors wrote about an emergent crisis of legitimacy for capitalism, but their arguments were undermined by the apparent popular capitalist revival of the 1980s and 1990s. Why do you think it is worth returning to these authors and how do you want to adapt their ideas to analyse the present conjuncture?

Failed theories can be instructive, provided they are well-structured and conceptually transparent. From the crisis theories of the 1970s we can learn that it is a mistake to under-estimate the agency of capital while over-estimating popular demands under capitalism for substantive legitimacy. With hindsight we can see that the capitalist economy, rather than having been transformed into a technocratic wealth-producing machine as the Frankfurt School had come to believe, had remained a site of class struggle from above, with highly class-conscious and profit-conscious capitalists. And we can also see that the new consumerism that began in the 1970s went a very long way, and still does, to procure, if not legitimacy, then at least compliance with the laws of capital accumulation. Neither the re-awakening of capitalists as a class nor the rise of consumerism was on the radar screen of ‘Critical Theory’. Weiterlesen

The Politics of Exit

Review of Peter Mair, Ruling the Void: The Hollowing of Western Democracy, Verso: London and New York, 2013

New Left Review, Vol. 88, July and August 2014, pp. 121-129

Much of what is now mainstream political science tends to be rather boring. Following the lead of American departments and journals, research on issues of real intrinsic interest, such as the changing character of political parties, seems to be stuck in endless attempts to model the choice between office-seeking and policy-seeking, the interaction between ‘vote-maximizing’ parties and ‘utility-maximizing’ voters, the organization of voter preferences or the dynamics of coalition formation — all in timelessly general property spaces, designed to lend themselves to representation by complex sets of formal equations.

There are, however, exceptions. Among the most remarkable of these, until his untimely death in the summer of 2011, was Peter Mair, professor of comparative politics at the European University Institute in Florence. Widely respected, especially on the European side of his profession, Mair preserved a keen understanding of both the history and the purpose of the study of democracy. (…)

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How Will Capitalism End?

Published in New Left Review 87, May-June 2014 (Download [PDF]). Deutsch in Blätter für deutsche und internationale Politik, März und April 2015 (Download [PDF]). Französisch in Le Débat, Numéro 189, Mars-Avril 2016 (Zugriff [Paywall]).

Presented at the British Academy, London, January 23, 2014 (further information).

The SPD under Merkel

thecurrentmoment, June 2, 2014

Since the fall of 2013 Germany has been governed by a Grand Coalition, led by the Christian Democrats under Angela Merkel and including as junior partner the Social Democrats under Sigmar Gabriel. Arguably the union of Black and Red was nothing more than the formalization of an informal cohabitation that had followed the end of the first Grand Coalition of the new century in 2009. Now that the opposition in the Bundestag has been reduced to a tiny and politically dispersed minority, it seems not much of an exaggeration to consider the government firmly in the hands of a centrist national unity party into which the two former Volksparteien have peacefully dissolved. Weiterlesen

Liberalisierungsmaschine Europa

Carta, 6. Januar 2014

Wie steht es um die Finanzkrise in Europa? Aus Griechenland, Spanien und Portugal erreichen uns weiter schlechte Nachrichten, aber der DAX hat zum Jahresende einen Höchststand erreicht, und der große Crash, etwa eine Staatspleite Griechenlands, ist bislang ausgeblieben. Hat die Politik die Krise irgendwie doch halbwegs in den Griff bekommen?

Dem DAX ist es auch bis kurz vor 2008 sehr gut gegangen. Blasen erkennt man erst, wenn sie platzen. Ob ein griechischer Staatsbankrott ein „großer Crash“ gewesen wäre und für wen, weiß man nicht. „Die Politik“ hat gar nichts „in den Griff bekommen“; es war die Zentralbank und ihr Versprechen, unbegrenzt „Liquidität“ zu produzieren, die die Gold- und Geldmänner beruhigt hat. Man kann aber nur eine begrenzte Zeitlang unbegrenzt Geld produzieren; auch das könnte eine Lehre aus 2008 sein. Allerdings weiß man nicht, wie man von dem Tiger, auf dem man reitet, ohne gesundheitliche Schäden wieder absteigt. Weiterlesen