Einstürzende Neubauten: Reflexionen zum britischen Austritt

Erschienen in: Die Zeit vom 30. Juni 2016 auf Seite 40 unter dem Titel „Ist der Brexit denn wirklich so schlimm? Nein. Die Briten pfeifen zu Recht auf den Finanzinternationalismus ihrer Eliten.“ (online hier)

English translation published on Verso Books Blog.

Man wird abwarten müssen, ob die deutschen „Europäer“ aus dem Ausgang des britischen Referendums etwas lernen werden. Viel Hoffnung besteht nicht; in ersten Reaktionen wurde dem Land von William Shakespeare und Adam Smith, von Newton und Hobbes, Händel und Marx bescheinigt, dass es eigentlich nie wirklich zu Europa gehört hat – offenbar aber wir. Dabei liegt für jeden außerhalb des Bannkreises des deutschen Nebels auf der Hand, dass ähnliche Abstimmungen in einer ganzen Reihe von Ländern ähnlich ausgegangen wären: Dänemark, Niederlande, Österreich, Ungarn, Italien, nicht zuletzt Frankreich. Die Europäische Union, so wie wir sie kennen, als institutioneller Rahmen einer „europäischen Integration“, wie die Deutschen sie sich vorgestellt haben, erlebt ihre Götterdämmerung, und wer es nicht glauben will, läuft Gefahr, von ihren einstürzenden Neubauten begraben zu werden. 

Wird die deutsche politische Klasse verstehen, dass sie den Zusammenbruch ihres Brüsseler Wolkenkuckucksheims wirkungsmächtig beschleunigt hat? Die britische Öffentlichkeit hat mit erstauntem Gruseln verfolgt, wie die Regierung Merkel/Gabriel ihr „Europa“ dazu eingesetzt hat, Griechenland abzuwirtschaften und zu demütigen, zur Rettung der deutschen und französischen Banken, deklariert als Rettung Griechenlands und der „europäischen Idee“. Sie hat ferner das Spektakel des deutschen flüchtlingspolitischen Alleingangs mehr oder weniger genau verfolgt: die Öffnung der deutschen und europäischen Grenzen zur Schließung der deutschen demographischen Lücke, ausgegeben in Abwesenheit eines Einwanderungsgesetzes als von „Europa“ zu übernehmende humanitäre Pflicht „ohne Obergrenzen“, dafür mit festen Kontingenten für alle Mitgliedsstaaten, begleitet von moralischer Verurteilung aller, deren Arbeitsmarkt und Demographie dergleichen nicht hergeben, mit anschließender Wende um 180 Grad, einschließlich europäischer Beitrittsperspektive für den Halbdiktator Erdogan und gerichtlicher Verfolgung im Auftrag „der Kanzlerin“ eines Kleinkabarettisten, der im halbstaatlichen Fernsehen geschmacklose Gedichte über diesen verbreitet hatte.

Man hätte wissen können, dass es in Großbritannien populäre Instinkte gibt, wonach man einem Club, in dem so etwas möglich ist, besser nicht angehören sollte. So hat denn auch die „Remain“-Partei ihre Position ausschließlich wirtschaftlich begründet, und nicht mit Liebe zu irgendeiner „europäischen Idee“. Das britische Denken neigt bekanntlich zur Empirie; „Ideen“ beurteilt es danach, wie sie sich im wirklichen Leben bewähren. Dass das „Leave“-Lager trotz breitflächig vorhergesagter und nachhaltig angedrohter ökonomischer Nachteile gewann, ist bemerkenswert in einer Welt, in der angeblich nur noch der wirtschaftliche Vorteil zählt, gerade unter Angelsachsen. Wer sich nicht auf diese Weise einfangen ließ, gilt nun ausgerechnet in deutscher Lesart als irrational, wenn nicht denkunfähig. Vielleicht war man es aber nur leid, von einem deutsch geführten Kontinent moralisch belehrt zu werden, etwas wegen der Schließung des Kanaltunnels für illegale Einwanderung?

Anders als Deutsche müssen Briten nicht unbedingt geliebt werden; es reicht ihnen, wenn jeder ihre Sprache lernen und unbeholfen sprechen muss. So konnten sich andere Emotionen und Affekte durchsetzen als die Angst vor einem europäischen Liebesentzug – Emotionen und Affekte, die auch außerhalb Großbritanniens verbreitet sind, dort aber bis vor kurzem latent geblieben sind. Freigesetzt werden sie durch die Idolatrie der sogenannten Globalisierung durch „Eliten“, die die „Offenheit“ ihrer Gesellschaften für die anstrengenden Schwankungen des Weltmarkts zum gleichermaßen moralischen wie wirtschaftlichen Wertmaßstab erheben. Die kulturelle Geringschätzung der ortsfesten Anhänger lokaler Traditionen durch eine sich kosmopolitisch gebende Ober- und Mittelschicht, die ihr Land und seine Leute nach ihrer „Wettbewerbsfähigkeit“ beurteilt, ist in den europäischen Gesellschaften weit verbreitet: sie ist Teil der ökonomistischen Umwertung aller Werte im Zuge des neoliberal beschleunigten kapitalistischen Fortschritts. Wer sich dem widersetzen will, dem steht, infolge des Übergangs des Zeitgeists in das gegnerische Lager, das den Unterschied zwischen solidarischem und Finanzinternationalismus vergessen hat, oft keine andere Sprache zur Verfügung als die der Nation und ihrer guten alten Zeiten. Gebrandmarkt als „Populisten“, die der neuen „Komplexität der Welt“ intellektuell nicht gewachsen sind, und semantisch ausgebürgert als „Anti-Europäer“ verstecken sie sich in ihren gallischen bzw. walisischen Dörfern – bis eine Wahl oder ein Referendum sie hervorholt, gerne auch ermutigt, in Ermangelung anderer Ermutigungen, von Demagogen oft finsterer Art, und anschließend wortgewaltig als gefährliche Hinterwäldler verurteilt von den Schultzs und Junckers, oder gar als „Pack“ von ihren vormaligen Repräsentanten, den Gabriels.

Beim „Brexit“ waren sie trotzdem erstmals in einem Land der Europäischen Union mehrheitsfähig, und das könnten sie bald auch woanders sein, und nicht nur einmal. Irgendwann werden dann auch die Vorletzten erkennen, dass die Europäische Union als Zukunftsmodell schon lange Vergangenheit ist (die Letzten, die Betreiber der Brüsseler und Frankfurter Zentralisierungsmaschine, werden es nicht erkennen; das wird dann aber auch nicht mehr nötig sein). Großstaaterei erscheint heute als ein unmodern gewordenes Modernisierungsprojekt, seit sie sich als unfähig erwiesen hat, den Prozess der Weltöffnung so zu moderieren, dass er den unterschiedlichen lokalen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen auf einem so diversen Kontinent wie Europa gerecht wird. Das Ende der „Sozialen Dimension“ der EU in den 1990er Jahren war auch das Ende der EU als Schutzinstanz ihrer Bevölkerungen gegenüber neoliberaler Umstrukturierung und Umerziehung. Inzwischen ist die EU als prospektiver Groß- und Superstaat den neokapitalistischen Fortschrittsbeschleunigern und der deutschen Exportindustrie in die Hände gefallen – mit Hilfe von nationalen Eliten, denen es egal ist, ob aus Disraelis „one nation“ wieder two nations werden, solange dabei ihr Spielfeld entsprechend ihren Ambitionen größer wird. Vor allem im Mittelmeerraum wirkt die EU heute, in Gestalt der Währungsunion, als Entmündigungs- und Rationalisierungsmaschine, als Instrument marktwirtschaftlich-ordoliberaler Gleichmacherei, oder versucht es, zurzeit immerhin mit abnehmendem Erfolg.

Größe und Vielfalt, und ihr Verhältnis zueinander, sind in Zeiten der Globalisierung die wichtigsten Variablen jeder politischen Architektur, gerade in Europa. Den Schotten – vielleicht Vorreiter einen neuen Modernität, wie sie es schon einmal waren, zu Zeiten der schottischen Moralphilosophen? – war Großbritannien schon lange vor der Brexit-Abstimmung zu groß, weil es ihnen die Freiheit verweigerte, sich auf eigene Rechnung in der globalen Welt einzurichten, oder auch nicht. Deshalb sollten diejenigen, die die EU lassen wollen, wie sie ist, sich angesichts schottischer Beitrittsabsichten keine Illusionen machen; kleine Länder, die grade einem großen Land ihre Autonomie abgerungen haben – siehe das Baltikum! – wollen sie nicht sofort wieder an der Garderobe eines noch größeren Landes abgeben. Auch Wales, Katalonien, Korsika, das Baskenland werden, wenn sie einmal unabhängig werden sollten, der EU vor allem zur Ausübung und zum Schutz ihrer Autonomie beitreten wollen. Nachdem die EU als Großstaat im Wartestand gescheitert ist, weil sie das Interesse der kleinen Leute an politischer Kontrolle des kapitalistischen Fortschritts nicht einlösen konnte, gehört die Zukunft möglicherweise kleinen, wendigen, zu selbstverantwortlichem Handeln und frei ausgehandelter Kooperation fähigen, nischensuchenden und –füllenden politischen Einheiten. Einen Vorgeschmack könnten die kleinen europäischen Nationalstaaten von heute geben, ob in der EU oder nicht, Dänemark, Schweden, Norwegen, die Schweiz und die Niederlande, Länder, in denen kollektive Güter, kollektive Identitäten und kollektiv gebildeter Wille konkreter, greifbarer und erstreitbarer sind als in einem europäischen Superstaat. Vielleicht war der, von Berlin sofort ausgebremste, Versuch des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rüttgers, mit seinem Bundesland dem Benelux-Vertrag beizutreten, doch nicht so absurd wie viele damals geglaubt haben?

Gibt es einen realistischen Weg zu einem Europa der variablen Geometrie, der selbstbestimmten und flexibel anpassbaren Kooperation zwischen kleinen staatlichen Einheiten, ohne Schultz und Juncker als Paten? Die mit London jetzt auszuhandelnden Ablösungsverträge könnten zur Konstruktion einer EU lite genutzt werden, einer zweiten, atmenden EU unterhalb der Vollmitgliedschaft im Brüsseler ever closer union-Apparat, als Plattform gleichberechtigter lateraler Zusammenarbeit über zwischenstaatliche Verträge und Konventionen, nach einem zur Abwechslung einmal ernstgenommenen, der Verwässerung durch die Brüsseler Funktionäre entzogenen Subsidiaritätsprinzip, autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich (Fritz Scharpf) zugleich: ohne Europäisches Parlament, das keines ist, ohne Europäischen Gerichtshof als freischöpfender und unkorrigierbarer Verfassungsgesetzgeber, ohne undurchsichtige Gipfelbeschlüsse, ohne öffentliche und geheime Politikauflagen der Europäischen Zentralbank. Ein solcher Rahmen könnte auch für viele derzeitige Vollmitglieder attraktiv sein und sollte deshalb als Auffanglager einer geordneten Auswanderung aus der alten, gescheiterten EU allen offenstehen, nicht nur den Briten. „Brüssel“ fürchtet das wie der Teufel das Weihwasser – weshalb seine Repräsentanten folgerichtig darauf drängen, den britischen Austritt so schnell wie möglich abzuwickeln, damit zum Nachdenken über eine zweite, zeitgemäße europäische Integration, am besten einschließlich eines flexibel erneuerten Währungssystems, keine Zeit bleibt.

Wird die EU, wird die deutsche Führungsmacht die in der britischen Entscheidung liegenden Chancen für eine Umgründung Europas erkennen und nutzen? Die Brüsseler Funktionäre und ihre Anhänger in den Nationalstaaten, nicht zuletzt in der integrationskonformistischen deutschen Öffentlichkeit, wollen ein Exempel statuieren: London abstrafen, wo immer es geht, und damit den Dänen, Holländern, Ungarn usw. zeigen, was eine Harke ist, so dass sie gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. So soll verhindert werden, dass der britische Austritt die seit Jahrzehnten unterdrückte Debatte über die finalité der europäischen Integration – darüber, was eigentlich an deren Ende stehen soll – endlich doch noch zum Ausbruch kommen lässt. Ein Superstaat für alle, ein einheitliches politisch-ökonomisches Regime von Hammerfest bis Agrigent, von Cork in Irland zur Ostgrenze der Türkei, in dem nach Bekunden stolzer Integrationseuropäer schon jetzt achtzig Prozent der geltenden Gesetze in Brüssel gemacht werden und die Nationalstaaten mit der marktkonformen Pflege ihres kulturellen Erbes zufrieden sein müssen? Wenn diese überfällige Frage auch nach dem Brexit nicht so beantwortet wird, wie die neuen Verhältnisse es verlangen, und das ist wahrhaftig zu befürchten, wird die Verrottung des zunehmend desintegrierten Europa weitergehen. Die Neubauten sind ins Rutschen geraten, und wenn nicht bald mit ihrer kontrollierten Sprengung begonnen wird, werden sie Europa erschlagen.