Kunde oder Terrorist?

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juli 2014. Abgedruckt in: Frank Schirrmacher (Hg.): Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, S. 247-256.

Es steht nicht gut um die Demokratie. Die Wahlbeteiligung in den Ländern des Hochkapitalismus geht seit Jahrzehnten zurück; die Parteien verlieren Mitglieder und überaltern; den Gewerkschaften geht es genauso; fiskalische Konsolidierung und sklerotische öffentliche Haushalte treiben den politischen Handlungsspielraum gegen null; die „Märkte“ disziplinieren die Staaten, nicht umgekehrt; Sozial- und Wirtschaftspolitik sind längst in die Hände von Zentralbanken, Ministerräten und internationalen Organisationen übergegangen, wo sie vor dem Volkswillen sicher sind; in der Mitte der „marktkonformen Demokratie“ (Merkel) gibt es zum Neoliberalismus „keine Alternative“ (Thatcher); als Folge haben Rechts- und Protestparteien Zulauf wie nie zuvor seit dem Krieg; und was an Wahlprogrammen in Umlauf gebracht wird, wird für teures Spenden- oder Steuergeld von Marketingspezialisten hergestellt, denen egal ist, dass die Pakete, die sie verpacken, alle gleich leer sind. „Postdemokratie“, so weit das Auge reicht.

Welchen Schaden können da NSA, GSHQ, BND und Konsorten, mitsamt ihren freiwilligen oder – genau kann man das nicht wissen – unfreiwilligen Zulieferern im Silicon Valley, der Demokratie noch antun? So gut wie keinen; der Rückbau der Demokratie läuft ohne sie. „Haltet den Dieb!“-Aufrufe wie die von Martin Schulz mögen echter Verzweiflung darüber entspringen, dass die Politik ihr demokratisches Geschäft selber hat verkommen lassen. Wahrscheinlich aber probiert der Polit-Profi nur ein neues Thema aus, das der politischen Klasse für ein paar Monate verlorenes Vertrauen zurückbringen soll. Dazu allerdings müsste sie vergessen machen, dass sie selber es war, die die Datenaustauschvereinbarungen mit den Vereinigten Staaten ausgehandelt und ratifiziert hat, die alle Nichtbesitzer von Diplomatenpässen dazu zwingen, der amerikanischen Regierung für jeden Transatlantikflug ihre Lebens- und Reisegeschichte mitsamt Biodaten zu ewiger Aufbewahrung zu übergeben.

Dass die digitale Vollüberwachung, der wir längst alle unterliegen – und jeder Politiker, der sie hätte zum Thema machen wollen, hätte schon Jahre vor Snowden nur in Wikipedia nachzuschauen brauchen, Stichwort „NSA“ – der Demokratie schaden soll, weil wir ihretwegen zögern könnten, unsere subversiven Gedanken per E-Mail zu verbreiten, ist ein beliebter Mythos unter denen, die die Engländer als die „chattering classes“ bezeichnen. Keine Seminarsitzung über Kapitalismus, Lohndrückerei, Arbeitslosigkeit, Entgewerkschaftung, Ungleichheit und so weiter, ohne dass jemand mit wohligem Entsetzen daran erinnert, dass die NSA das jetzt alles aufgezeichnet habe. Man fühlt sich dann wichtiger, obwohl man doch aus eigener Erfahrung weiß, dass es zur Domestizierung von Dissens im Konsum- und Karrierekapitalismus effektivere Methoden gibt als die einer algorithmisch aufgerüsteten Stasi. Dass die Rundumüberwachung dazu gedacht ist, die freie Meinungs- und Theorieäußerung zu ersticken, kann schon deshalb nicht stimmen, weil sie ja eigentlich im Geheimen stattfinden sollte; oder muss man sich die Snowdenschen Enthüllungen als besonders raffiniertes Manöver zur Einschüchterung potentieller Dissidenten vorstellen?

Interessant ist, dass die Digitalisierung des Lebens noch vor ganz kurzem, also in fernster Vergangenheit, nicht als Gefahr für die Demokratie gehandelt wurde, sondern im Gegenteil als Vehikel ihrer bevorstehenden Renaissance. Erinnert sich noch jemand an die „Piraten“ – an die „digital natives“ und ihre von den Medien zelebrierte Utopie laufender politischer Entscheidungsbeteiligung für jeden per Internet? Seit aufgefallen ist, dass alles, was da zur Sprache käme, mitgeschnitten und aufbewahrt werden könnte, und zwar von den staatlichsten aller staatlichen Institutionen, den Geheimdiensten, hat sich der Traum von „liquid democracy“ verflüssigt. Mit ihm zusammen gescheitert ist die Vorstellung von Demokratie als einem Entscheidungsreglement, das jeden jederzeit mitreden lässt, notfalls aus dem hohlen Bauch, sofern es nur öffentlich geschieht – eine Vorstellung übrigens, die diejenigen, die an sie geglaubt haben, mit einem Gutteil der akademischen Demokratietheorie gemeinsam hatten.

Wie abwegig diese ist, hatte sich schon vor Snowden gezeigt, als der allgemein zugänglich gemachte interne Bewusstseinsstrom der Piratenpartei eine Bizarrerie nach der anderen ans Licht brachte. Das eigentliche Problem mit „digitaler Demokratie“ ist aber nicht einmal, dass dann Figuren wie linuxpinguin, leberwurst, checker777, brbrbr, brandwolf und andere, die laufend anonym die Kommentarspalten der Online-Zeitungen verstopfen, die „öffentliche Meinung“ bilden könnten.

Demokratie, die eine solche sein soll, muss Themen behandeln und entscheiden können, die wichtiger wären als beispielsweise die Frage, wer unter der EZB, dem EuGH und dem Europäischen Rat Kommissionspräsident werden darf. Auch „Schwarmintelligenz“ ist nichts wert, wenn sie nicht mit Entscheidungsmacht ausgestattet ist. Wenn Fragen wie etwa die, auf welche Weise ein Land die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen seinen Bürgern bekämpfen will, dem Zugriff der Demokratie, digital oder nicht, durch internationale Verträge, Europarecht, Gipfelabsprachen, Twopacks, Sixpacks, ESM und so weiter entzogen sind – was nützte es dann, wenn bei den noch übrigen Entscheidungen jeder mitmachen dürfte?

Wenn aber die elektronische Rundumerfassung aller wichtigen menschlichen Lebensäußerungen zur Ausschaltung der Demokratie gar nicht gebraucht wird, wozu wird sie dann gebraucht, und was hat das mit Kapitalismus zu tun?

Ich behaupte, sie wird gebraucht, um neuartige Steuerungsprobleme des wirtschaftlichen und politischen Lebens durch einen Wechsel von kollektiven zu individualisierten Formen sozialer Kontrolle in den Griff zu bekommen. Was den Kommerz betrifft, so dient die grenzenlose Datensammlung über jeden Einzelnen der Steigerung der Effizienz der Produktwerbung. Das ist keine Kleinigkeit. Der Konsumkapitalismus kann nur funktionieren, wenn seine Marktteilnehmer willens sind, immer länger und härter zu arbeiten, um sich immer neue und immer unnützere schöne Dinge leisten zu können. Damit sie sich diese auf hohem Sättigungsniveau auch leisten wollen, müssen ihre Vertreiber durch immer feinere Differenzierung ihrer Produkte immer näher an das individuelle Wunschpotential jedes möglichen Kunden herankommen. Hierzu bedarf es eines aufwendigen, ständig teurer werdenden Marketings, wobei mit der Vielfalt der Produkte und der Vielzahl immer enger werdender Marktnischen die Gefahr von Streuverlusten zunimmt. „Big Data“ ermöglicht es, die wahrscheinlichsten Abnehmer jedes neuen Produkts und seiner Aura persönlich zu identifizieren und die werbliche Ansprache individuell auf sie zuzuschneiden – wobei ein Teil des so gesparten Geldes die für den Nutzer kostenfreie globale Infrastruktur der „sozialen Netzwerke“ finanziert, deren Verfügbarkeit die Individualisierung der sozialen Beziehungen weiter vorantreibt.

Aber werden die Kunden nicht irgendwann erschrecken, wenn ihnen klar wird, was ihre Lieferanten alles über sie speichern, und sich aus ihrer Verstrickung in das Netz zu befreien versuchen? Wohl kaum. Amazon und seine Wettbewerber, mit ihren maßgeschneiderten Einkaufslisten, lösen ein Grundproblem des Lebens im Kapitalismus von heute: das der Vereinbarkeit von Konsum und Beruf beziehungsweise der Kollision von Konsum- und Produktionspflichten. Woher sollen wir die Zeit nehmen, uns mit der erforderlichen Gewissenhaftigkeit mit einem ins Unendliche gewachsenen Angebot von Zeug jeder Art vertraut zu machen, wenn wir immer mehr Zeit brauchen, um das Geld zu verdienen, das wir brauchen, um es zu bezahlen? Die individualisierten Konsumaufträge der neuen Versandhäuser ersparen uns nicht nur die Lektüre unzähliger Lebensstilkataloge, sondern gleich auch noch den Weg ins Warenhaus, und ermöglichen uns dadurch, im Erwerbs- und Konsumwettbewerb gleichermaßen mitzuhalten. Daniel Bells pessimistische Vorhersage, dass der konsumeristische Hedonismus der postindustriellen Gesellschaft auf Kosten von Arbeitszeit und Arbeitsdisziplin gehen und damit den Kapitalismus auf Dauer untergraben werde, wird so durch die Digitalisierung des Kapitalismus falsifiziert.

Die flächendeckende Datensammelei durch die Geheimdienste folgt einer ähnlichen Logik insofern, als auch sie vom Kollektiv zum Individuum vorstößt. Ihr Ziel ist, da soll man sich nicht täuschen, irgendwann einmal alles Wissbare über jeden einzelnen lebenden Menschen in riesigen Speichern in irgendwelchen Wüsten des amerikanischen Westens vorrätig zu halten. Dabei geht es nicht darum, Abgeordnete oder Regierungsmitglieder mit Sexgeschichten zu erpressen; dafür würde die preiswertere Mata-Hari-Technologie von früher völlig ausreichen. Auch für Wirtschafts- und Kanzlerhandyspionage muss man nicht erst einen Heuhaufen ansammeln, um ihn dann nach einer Nadel durchsuchen zu können. Verständlich wird das Projekt erst, wenn man seine offizielle Rechtfertigung ernst nimmt und es in dem Zusammenhang betrachtet, in den es gehört: dem des „Kriegs gegen den Terror“.

Dieser ist, wie man weiß, ein „asymmetrischer“. In ihm hat man es als Imperium nicht mit Staaten als Gegnern zu tun, sondern mit Individuen, die man erst einmal identifizieren muss, bevor man sie vor oder nach der Tat gezielt exekutieren kann. Dazu braucht man Daten, und zwar möglichst viele über möglichst alle, weil niemand von vornherein als unverdächtig gelten kann.

Dass dafür nicht allein die NSA zuständig ist, kann jeder Reisende an dem monströsen, laufend verschärften amerikanischen Ein- und Durchreiseregime beobachten. Früher galt es, gesichertes Wissen über höchstens hundertfünfzig Staaten vorzuhalten, die ihre Bürger unter Kontrolle hatten und mit denen man Krieg führen, Frieden schließen und Abkommen aushandeln konnte. Zuständig dafür war die Diplomatie. Heute dagegen ist das Staatensystem als kontrollfähige Mittelinstanz der Weltordnung in Erosion begriffen. Immer mehr Staaten verschwinden von der Landkarte, andere bestehen nur noch auf dem Papier und haben die Gewalt über ihr Territorium und ihre Bürger verloren, zum Teil als Folge militärischer Domestizierungsanstrengungen des Imperiums und anschließend gescheiterten „Nation-Buildings“. In diesen Gegenden vor allem, grundsätzlich aber überall, befinden sich die „Rückzugsräume“ der „Terroristen“.

Im asymmetrischen Krieg braucht das Zentrum nicht mehr nur 150 Datensätze, sondern im Prinzip sechs Milliarden – ein Weltpersonenregister, gepflegt von der NSA als Einwohnermeldeamt der in Washington D.C. ansässigen virtuellen Weltregierung. Nur mit seiner Hilfe lässt sich der fließende Wechsel zwischen Völkerrecht, Kriegsrecht, Strafrecht und überhaupt keinem Recht bewerkstelligen, der die Sicherheitspolitik des Imperiums heute ausmacht, und nur so wird es möglich, von obsolet gewordener Massenvernichtung in konventionellen oder atomaren Land- und Luftkriegen auf personalisierte Liquidierung umzuschalten. Instrumente der Wahl für die asymmetrische Kriegführung des Zentrums sind dementsprechend nicht mehr die herkömmlichen Panzerarmeen, sondern Special Operations Forces, die dem persönlichen Kommando des Präsidenten unterstehen: in völliger Geheimhaltung operierende Eliteeinheiten.

Auch die Drohnenkriegführung, als Modus sozialer Kontrolle ebenso individualisiert wie die gezielten Tötungsaktionen der „Special Ops“, wäre ohne Big Data unmöglich; schließlich muss man wissen, wo die Todeskandidaten gerade sind. Zurzeit kann ein in Pakistan versteckter amerikanischer Bürger muslimischen Glaubens und mutmaßlich terroristischer Überzeugung über das Internet Zeitungsberichte darüber verfolgen, wie CIA und Armee sich streiten, wer von beiden ihn mittels Drohnenangriff vom Leben zum Tode befördern darf; der Präsident, heißt es, hält sich bedeckt. Dafür genehmigt er laufend personalisierte Abschusslisten, auf höchster Geheimhaltungsstufe – Kriegserklärungen an Individuen statt an Staaten -, und lässt sich als Commander in Chief bei der Betrachtung der am Bildschirm übertragenen Liquidierung des Staatsfeindes Nummer eins durch die Navy Seals fotografieren.

Bemerkenswert und erklärungsbedürftig ist der fanatische Perfektionismus des imperialen Sicherheitsapparats. Kein einziger Anschlag des Gegners darf stattfinden, geschweige denn gelingen, jeder Terrorist muss ausgeschaltet werden und mit ihm jeder mögliche Terrorist, auch wenn er hinterher gar keiner geworden wäre. Kein Einreiseformular ist zu lang, kein Algorithmus zu weit hergeholt, und Geld spielt keine Rolle: Die Fehlertoleranz liegt bei null. Nach außen, an der Peripherie, sind Verbündete zu schützen, die ihrer Bevölkerung und ihrem Sicherheitsapparat nicht trauen können. Individualüberwachung und Individualexekution ihrer Feinde mit fortgeschrittener Daten- und Drohnentechnologie sind für sie lebenswichtig. Versagt die Technik, sinkt das Vertrauen, und bald denken die Freunde darüber nach, ob sie nicht besser die Seiten wechseln sollen. Immerhin hat das Imperium zwei Landkriege nacheinander verloren; jetzt muss jeder Schuss sitzen.

Ähnlich verhält es sich an der Heimatfront: Kein einziger Anschlag darf Erfolg haben oder auch nur stattfinden. Nicht weil, wie manchmal behauptet wird, in einer „postheroischen“ Gesellschaft jedes Menschenleben heilig wäre. 2013 starben in den Vereinigten Staaten 11 400 Personen an Gewehr- und Pistolenschüssen, 31 pro Tag, davon mehr als tausend Kinder und Jugendliche unter 18. Dennoch ist die Einrichtung eines zentralen Waffenregisters politisch ausgeschlossen, auch wenn dieses hundertmal billiger wäre als die Rechner der NSA und hundertmal weniger in die Privatsphäre der Bürger eindringen würde als die Rundumüberwachung im Namen der nationalen Sicherheit: illegal durch die NSA, halb legal durch das FBI und legal durch das GSHQ, die faktische Auslandsniederlassung der NSA in Cheltenham bei London. Dass im Zentrum des Imperiums Ruhe herrschen muss, ergibt sich unter anderem daraus, dass es als letzte sichere Zuflucht für die verbündeten politischen und wirtschaftlichen Oligarchen der Peripherie gebraucht wird, für ihr Vermögen und ihre Familien, einschließlich ihrer in Harvard, Columbia und Stanford studierenden Kinder. Auch kann dem imperialen Willen der eigenen Bevölkerung nicht getraut werden, trotz aller fest im Alltag verankerter militaristischer Rituale. Jeder Anschlag, gelungen oder nicht, würde heraufbeschwören, was in der Sprache der politischen Klasse „Isolationismus“ heißt. Niemand kann garantieren, dass die Bevölkerung sich nach einem Terrorangriff nicht die Frage stellt, die sie sich nach dem Willen der Terroristen stellen soll: warum sie mit Geld, Leib und Leben mithelfen soll, in Saudi-Arabien oder Afghanistan oder sonst wo am Ende der Welt irgendeine korrupte Clique, über die man mit Sicherheit nur wissen kann, dass sie korrupt ist, an der Macht zu halten oder an diese zu bringen.

Individualisierung der sozialen Kontrolle durch flächendeckende Einzelerfassung letztendlich aller lebenden Personen ist als technologisches Projekt nicht weniger monströs als das gesellschaftliche Projekt, dem es zuarbeitet: die erdumspannende Organisation der Menschheit mittels Durchkapitalisierung ihrer Lebenswelt.

In den riesigen Datenspeichern des digitalen Kapitalismus erscheint das Individuum vor allem in seiner zu steuernden Potentialität: als Konsument oder als Terrorist. Seine im erdumspannenden Netz der digitalisierten Sozialbeziehungen hinterlassenen Spuren bilden das Rohmaterial einer neuartigen Vorwärtskontrolle menschlichen Handelns: Der Terrorist soll gefunden werden, bevor er zu einem wird; über den Konsumenten will man wissen, was er konsumieren will, bevor er selber es weiß. So werden beide, jeder auf seine Art, aus dem Reich derer, die etwas zu sagen haben, ausgebürgert.