Es ist so weit

Erschienen in leicht gekürzter Fassung am 5. Feburar 2015 in der Wochenzeitung Die Zeit. Französische Übersetzung in Le Monde vom 3. März, englische Übersetzung im Verso Books Blog und niederländische Übersetzung im Blog des Leesmagazijn Verlags.

Wenn alles gutgeht, ist das, was sich dieser Tage vor unser aller Augen abspielt, der Anfang vom Ende der Europäischen Währungsunion. „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“, so die Kanzlerin, als es darum ging, den Wählern einen dieser unsäglichen „Rettungsschirme“ für die europäischen Banken zu verkaufen. Umgekehrt wird nun ein Schuh daraus. Der Euro ist dabei, Europa zu zerstören. Scheitert der Euro – aber das muss rasch geschehen! – könnte es sein, dass Europa am Ende doch nicht scheitert. Sicher freilich ist das nicht; zu tief sind die Wunden, die die Währungsunion schon geschlagen hat.

Mit der Übernahme der griechischen Regierung durch die linke SYRIZA im Bündnis mit einer rechtsradikalen Splitterpartei könnte das monströse Projekt, unterschiedlichen Wirtschaftsgesellschaften eine gemeinsame Währung aufzupfropfen, endlich sein verdientes Ende finden. Was hatte man nicht alles versucht! Erst die grauen Technokraten aus der Welt der privaten und staatlichen Geldbürokratien, Monti und Papademos, an die Stelle gewählter Regierungen gesetzt, bis sie nach kurzer Zeit von ihren demokratisch verfassten Völkern den Stuhl vor die Tür gesetzt bekamen – Monti, nachdem er den Italienern im Wahlkampf in Aussicht gestellt hatte, sie zu Deutschen zu machen. Nach ihm kam Letta, ein europhiler Funktionär, und nach Papademos eine Große Koalition eben der beiden korrupten Klientelparteien, Nea Demokratia und PASOK, die das Land mit Brüsseler und New Yorker Hilfe in den Abgrund geritten hatten. Letta ist nun schon länger verschwunden, ersetzt durch einen mit allen Wassern gewaschenen Öffentlichkeitsarbeiter, Renzi, und Samaras und Venizelos, die Athener Blues Brothers, sind ihrer Nemesis in Gestalt von Alexis Tsipras und seiner neuen, neuartigen Partei begegnet. In Griechenland wie in Italien ist die Ära der europäischen Fügsamkeit damit definitiv vorbei: die nationalen demokratischen Institutionen, was immer man sonst über sie sagen mag, haben die Brüsseler Implantate abgestoßen. Und so wird es weitergehen, spätestens wenn in Spanien die Schwesterpartei von SYRIZA, Podemos, den ebenfalls zutiefst korrupten Partido Popular in die Wüste schickt.

Nun wird also verhandelt – noch nicht über die Abwicklung der Währungsunion, immerhin aber über das Ende der sogenannten „Austerität“. Die Profis schweben in Athen ein, um die Amateure auszuchecken. No holds barred, sagen die Ringer, all punches pulled die Boxer. Nichts von dem, was jetzt an die Presse gelangt, darf man für bare Euro-Münze nehmen; das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Nur über eins kann man sicher sein: nichts wird wieder so sein wie vorher. Das wäre übrigens auch der Fall gewesen, wenn die griechische Wahl von den alten Mächten unter Samaras gewonnen worden wäre; auch sie hätten die Memorandum-Politik der Troika nicht fortsetzen können und haben das auch gesagt. Für die Trickser in Brüssel mag das nicht viel bedeutet haben; es ist ja noch nicht lange her, dass ihr derzeitiger Chef die Öffentlichkeit in einem unbedachten Moment über den für ihn selbstverständlichen Unterschied zwischen dem, was man sagen muss, um gewählt zu werden, und dem, was man danach tut, ins Bild gesetzt hat. Nun hört man, dass die abgewählte griechische Regierung sich gewissermaßen im Vorgriff schon monatelang nach alter Art nur noch mit kreativer Buchführung beschäftigt hat – etwa indem die auf Anweisung der Troika entlassenen Beamten verrentet wurden, ohne dass die für ihre Pensionen benötigten Beträge in den Haushalt eingestellt worden wären. Natürlich haben auch diesmal die Scharen von Volkswirten bei der EU, dem IWF und der EZB davon nichts, aber auch gar nichts bemerkt.

Was genau bei den nun begonnenen Verhandlungen herauskommen wird, kann niemand wissen. Darüber, ob Griechenland im Euro bleiben oder aus ihm austreten soll, ist SYRIZA gespalten – aber selbst, wenn das Ziel der Austritt wäre, würde sie das jetzt klugerweise nicht sagen. Welche Karte die griechische Regierung am Ende ziehen kann und wird, muss sich herausstellen: möglich ist vieles, von einem russischen Kredit bis hin zu einem finanziellen Selbstmordattentat in Gestalt eines formellen Staatsbankrotts. Auf der Gegenseite schwören Italien und Spanien ebenso wie Frankreich, dass sie hinter der gemeinsamen „Reform“- und „Rettungspolitik“ stehen – klar ist aber, dass sie sämtliche Konzessionen, die Griechenland für sich aushandeln wird, im Hintergrund unterstützt durch die anderen Mittelmeerländer, auch für sich selber beanspruchen werden. Das wird dann für den Norden, namentlich Deutschland, richtig teuer. SYRIZA als Minenhund, der erkundet, wie weit Deutschland zu gehen bereit ist, um die Währungsunion zusammenzuhalten?

Vielleicht gelingt es den Brüsseler Verhandlungskünstlern ja, Griechenland irgendwie mit einer Kombination von Belohnungen und angedrohten Strafen vorerst stillzustellen und den Euro so über den Sommer zu bringen. Und vielleicht hätte das den erwünschten Nebeneffekt, SYRIZA zu spalten und ihren Ruf bei ihren Wählern zu ruinieren. Aber jeder kann heute wissen, dass damit schon auf mittlere Frist nichts gewonnen wäre. Die Atempause wird eine kurze sein, auch wenn es noch einmal gelingen sollte, den Kompromiss irgendwie an den nordeuropäischen Wählern vorbeizuschleusen. Mit einer fiskalischen Sanierung Griechenlands, wenn sie denn zustande käme, und der dann unvermeidlichen Sanierung der anderen Schuldnerländer ist nämlich nichts gewonnen. Selbst wenn die griechische Wirtschaft sich auf ihrem jetzigen Niveau stabilisieren würde, blieben die durch die „Reformen“ – die innere Abwertung unter dem de facto-Goldstandard der Währungsunion – entstandenen gigantischen Disparitäten zwischen Nord- und Südeuropa bestehen, und dasselbe würde für Italien und Spanien gelten, wenn sie sich nach den Auflagen der EZB und der EU „wettbewerbsfähig“ machen würden. Die Folge wären Forderungen nach Ausgleich durch Umverteilung oder „angekurbeltes“ Wachstum, in Gestalt von Krediten oder regionalpolitischen Strukturhilfen, mindestens zur Wiederherstellung der Relationen von vor Krise und „Rettung“: ein auf die Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen verlagerter Verteilungskonflikt. Forderungsadressat wäre Deutschland, zusammen mit ein paar kleineren Ländern wie den Niederlanden, Österreich und Finnland – Frankreich träte als „Vermittler“ auf. Egal ob als Ausgleichsleistungen zur Behebung der Krisen- und Krisenbekämpfungsschäden im Namen europäischer Solidarität, als Eintrittsgebühr für gesicherten Marktzugang oder als verspätete Reparationen gefordert und geleistet, im Vergleich wären die alten Sozial- und Strukturfonds der EU nicht mehr als Peanuts.

Damit begänne ein Dauerkonflikt, an dem Europa zerbrechen könnte. Deutschland, der Norden könnte sich den zu erwartenden Verhandlungen nicht entziehen. Innerhalb der Währungsunion würden Entscheidungen, mehr noch als schon jetzt, laufend unter dem Gesichtspunkt ihrer internationalen Verteilungswirkung öffentlich durchgerechnet. Die Südländer müssten für ihren Verzicht auf monetäre Souveränität und damit auf die Möglichkeit einer externen Abwertung entschädigt und in die Lage versetzt werden, die Folgen ihrer durch neoliberale „Reformen“ vollzogenen internen Abwertung zu mildern und langfristig auszugleichen, schon zur Verhinderung einer politischen Rebellion ihrer Bürger nach innen oder ihrer Regierungen nach außen. Der Norden – Brüssel, Berlin – würde als Gegenleistung für seine als Wachstumsprogramme, regionalpolitische Kredite oder Zuschüsse zu Infrastrukturinvestitionen ausgewiesenen Ausgleichzahlungen darauf bestehen müssen, die Verwendung der Mittel mitbestimmen und überwachen zu können. Geld gegen Kontrolle, in einem Verband souveräner europäischer Nationalstaaten! Abzusehen ist, dass die Geldgeber die ihnen abverhandelten Zahlungen für zu hoch und die ihnen gewährte Kontrolle für unzureichend halten werden, während den Empfängerländern das Geld als zu wenig und die dafür verlangten Einschränkungen ihrer Souveränität als zu weitgehend erscheinen werden.

Dass dies mehr ist als ein nur zeitweiliges und tatsächlich nichts weniger als ein strukturelles Problem, liegt daran, dass die Währungsunion nationale Gesellschaften mit höchst unterschiedlichen Wirtschaftsweisen und Wirtschaftskulturen zusammenspannt, die wiederum mit unterschiedlichen, die Schnittstelle zwischen sozialem Leben und modernem Kapitalismus ausgestaltenden Gesellschaftsverträgen korrespondieren. Ein wichtiges Element dieser politisch-ökonomischen Ordnungen sind ihre jeweiligen, an ihre Umgebung angepassten Geldregime. Mittlerweile kann man sich hierüber in einer wachsenden Literatur informieren. Idealtypisch vereinfacht kann man aus ihr lernen, dass die Länder des Mittelmeerraums einen Kapitalismustyp ausgebildet haben, in dem Wachstum vor allem von der Binnennachfrage getrieben wird, notfalls unterstützt durch Inflation, verursacht durch einen defizitären Staatshaushalt oder durch starke, infolge hoher Beschäftigungssicherheit bei hoher Beschäftigung im öffentlichen Sektor abgesicherte Gewerkschaften. Inflation wiederum erleichtert die Aufnahme von Staatsschulden, weil sie diese laufend entwertet. Hinzu kommt häufig ein stark reguliertes, oft halbstaatliches nationales Bankensystem. Auf diese Weise werden die Interessen von Arbeitnehmern und typisch binnenwirtschaftlich und kleinbetrieblich operierenden Arbeitgebern mehr oder weniger gut zum Ausgleich gebracht. Der Preis ist ein laufender Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, der aber bei monetärer Souveränität durch periodische Abwertung der nationalen Währung auf Kosten ausländischer Exporteure kompensiert werden kann.

Die nördlichen Volkswirtschaften der Währungsunion, allen voran Deutschland, funktionieren anders. Ihr Wachstum beziehen sie aus Exporterfolgen und sind deshalb inflationsavers, auch die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften, zumal heute, da steigende Kosten sehr rasch zur Abwanderung industrieller Produktionsstätten führen können. Abwertungen brauchen sie nicht unbedingt; was Deutschland angeht, so ist es im Gegenteil seit den 1970er Jahren mit immer neuen Aufwertungen seiner Währung sehr gut zurechtgekommen, typischerweise durch Aufwertung seiner Produkte und Abwanderung aus preiskompetitiven in qualitätskompetitive Märkte. Während die Mittelmeerländer einschließlich Frankreich traditionell eine weiche Währung benötigen, sind Länder wie Deutschland auf eine harte Währung eingestellt. Das macht sie nicht nur inflations-, sondern auch verschuldungsavers, auch wenn die Zinsen, die sie auf Staatsschulden zu zahlen haben, eher niedrig sind. Dass sie ohne eine lockere Geldpolitik auskommen, enthebt sie überdies der Notwendigkeit, das Risiko von Blasenbildungen in Vermögensmärkten hinnehmen zu müssen, und kommt überdies ihren Sparern zugute.

Ein gemeinsames Geldregime für (nordeuropäische) Spar-und-Investitionsökonomien auf der einen Seite und (südeuropäische) Kredit-und-Konsumwirtschaften auf der anderen kann es nicht geben. Wenn man sich trotzdem auf ein solches einlässt — und es ist eine interessante Frage, wie es unter diesen Umständen überhaupt zu einer europäischen Währungsunion kommen konnte — können nicht beide Wirtschaftsweisen gleichermaßen profitieren; es sei denn, eine davon „reformiert“ ihre Produktionsstruktur und den auf die gegründeten gesellschaftlichen Friedensvertrag nach dem Vorbild der anderen. Es ist in Europa schon fast vergessen, dass die ersten Jahre der Währungsunion die Zeit waren, als Deutschland der „kranke Mann Europas“ war. Damals lag der gemeinsame Zinssatz für den Euro oberhalb der deutschen Inflationsrate, und die institutionell und wirtschaftlich zu Inflation unfähige deute politische Ökonomie litt unter viel zu hohen Realzinsen. Gleichzeitig verzeichnete der Mittelmeerraum Inflationsraten oberhalb des Zinssatzes und profitierte dadurch von negativen Realzinsen. Seit 2008, nach dem Ende der Kreditschwemme, also dem Platzen der Illusionen der Finanzmärkte über die deutsche Bereitschaft, als lender of last resort die Schulden des Südens zu übernehmen, und mit dem Rückgang des Zinssatzes auf nahezu null Prozent sind es nun die Deutschen, die von der gemeinsamen Währung profitieren. Verständliche südeuropäische Versuche, mit Hilfe der EZB den Euro aufzuweichen und so auf Umwegen zu Inflation, Schuldenfinanzierung des Staates und Abwertung der Währung zurückzufinden, stoßen auf ebenso verständliche Abneigung der Nordländer, durch gegen sie gerichtete Mehrheitsbeschlüsse als Ersatzkreditgeber herangezogen zu werden und für jene Geldinjektionen zu bezahlen, ohne die die politische Ökonomie ihrer südländischen Partner nicht funktionieren könnte.

Den hier aufscheinenden Strukturkonflikt, in welchen wechselnden Formen er sich auch immer manifestieren mag, wird es so lange geben, wie es die Währungsunion geben wird. Wenn diese nicht an ihm zerbricht, weil die Regierungen stur an ihrem „frivolen Experiment“ festhalten oder der deutsche Exportsektor, vom deutschen Euro-Idealismus mit ideologischen Ausreden versorgt, glaubt, bis zum Endsieg an seiner „europäischen Idee“ festhalten zu müssen, dann wird Europa an ihm zerbrechen. Die schnellstmögliche Beendigung der Währungsunion in ihrer derzeitigen Form liegt deshalb vor allem auch im deutschen, wenn nicht wirtschaftlichen, dann jedenfalls politischen Interesse. In den Ländern des Mittelmeerraums, auch in Frankreich, ist Deutschland heute verhasster als jemals nach dem Zweiten Weltkrieg. Wahlsiege werden dort nur noch gegen Deutschland und die deutsche Kanzlerin gewonnen, auf der Rechten wie der Linken. Die Geldspritze der EZB vom Januar hat nur eins sicher bewirkt: ein Triumphgefühl in Südeuropa über die deutsche Niederlage im EZB-Rat. Der Held Italiens heißt Mario Draghi, seinen neoliberalen Überzeugungen und seiner Goldmann Sachs-Vergangenheit zum Trotz, weil er, so wird das gesehen, die Deutschen überlistet und gedemütigt hat. Wer immer nur in Deutschland gelebt hat und die italienische Sprache nicht versteht, hat keine Ahnung über die emotionale Verwüstung, die der Euro im Verhältnis der beiden Länder angerichtet hat.

Die Weigerung der deutschen Presse, über das volle Ausmaß des Zerwürfnisses zwischen Deutschland und seinen ehemaligen europäischen Freunden zu berichten, ist ein Beispiel unter vielen für deren betulich-staatstragenden Konformismus, der ihrer Glaubwürdigkeit so sehr schadet. Selbst alte Freunde auf der Linken, deren klaren Kopf man bewundert hat, erklären heute dem deutschen Kollegen, dass die entscheidenden Konflikte im derzeitigen Europa nicht mehr zwischen Klassen, sondern zwischen Nationen stattfinden, mit Deutschland auf der einen Seite und den von ihm ausgebeuteten Ländern des Mittelmeers auf der anderen. Ein paar intellektuelle Etagen tiefer, in den Tageszeitungen und Fernsehsendungen, kann man Frau Merkel und Deutschland auf vielfältige Weise mit Hakenkreuzen aller Art assoziiert finden. Alternativ erscheint die Kanzlerin, in einem wirkungsvollen klischeepolitischen Topos, der verheerenderweise von der deutschen Linken vielfältig aufgenommen und dadurch für die „europäische Öffentlichkeit“ validiert wird, als „schwäbische Hausfrau“ – also immerhin mad statt bad – die anders als ihr vermutliches Gegenbild, die lebensfroh-kreditkartenbewehrte Madison Avenue-Shoppingfrau, hoffnungslos hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Die Deutschen als Spaßbremsen der Konsumgesellschaft, die nicht verstanden haben, dass man sich durch Kredit nicht ruiniert, sondern im Gegenteil aus dem Sumpf zieht, und die sich deshalb weigern, den anderen die Rechnung zu bezahlen, obwohl dies am Ende irgendwie auch ihnen zugutekäme. Dies die trivialkulturelle Repräsentation der unterschiedlichen Wirtschaftsweisen, die durch die Währungsunion verhängnisvollerweise in ein gemeinsames Geldregime gepresst werden. Dass amerikanische „Keynesianer“ wie Lawrence „Larry“ Summers, die mit ihrem Deregulierungswahn den Zusammenbruch von 2008 mitverschuldet haben, dem auch noch wissenschaftliche Weihen verleihen, ist einer der zahlreichen Treppenwitze einer Gegenwart, in der es immer weniger zu lachen gibt.

Deutschlands europäischer Absturz ist zu einem guten Teil ein Langzeiterbe des „leidenschaftlichen Europäers“ Helmut Kohl. Wenn europäische Übereinkünfte an Uneinigkeit über die Aufteilung der Kosten zu scheitern drohten, war Kohl, dem als deutschem Regierungschef am Fortschritt der europäischen Integration gelegen sein musste, immer wieder bereit, die Rechnung zu übernehmen. Was aus historischen Gründen im deutschen Interesse gelegen haben mag, wurde in der politischen Folklore Kohls persönlichen Überzeugungen zugerechnet, weckte aber dennoch Erwartungen über seine Amtszeit hinaus. Für Kohls Nachfolger, egal ob CDU oder SPD, würden freilich die Interessen der deutschen Exportwirtschaft und ihrer Gewerkschaften ausreichen, um alles zu tun, diesen Erwartungen gerecht zu werden und den Zusammenhalt der EWU notfalls allein zu finanzieren. Das aber können sie nicht mehr. Die von vielen guten Europäern herbeigesehnte Vertiefung des Integrationsprozesses hat dessen Politisierung und die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit zur Folge gehabt, die dem „permissiven Konsens“ über integrationseuropäische Politik ein Ende gesetzt hat. Anders als erhofft und erwartet ist die europäische Öffentlichkeit keine innen-, sondern eine außenpolitische geworden, in der zwischenstaatliche Interessenkonflikte dominieren und das früher nur nebenher zur Kenntnis genommene Ziel einer ever closer union zunehmend strittiger wurde. Darüber hinaus sind in der Währungsunion die nötigen Integrationszuschüsse, die nach alter Art von den Deutschen erwartet werden, so hoch geworden, dass sie die deutschen Möglichkeiten auch bei bestem deutschen Willen weit übersteigen, auch wenn dies von den Partnerländern, die noch die Kohl-Zeiten in Erinnerung haben, nicht geglaubt wird.

Man kann getrost davon ausgehen, dass die Regierung Merkel, Hakenkreuze und schwäbische Hausfrau hin und her, nur allzu gerne bereit wäre, für die Durchsetzung ihrer „europäischen Idee“ eines abwertungsfreien supranationalen Binnenmarktes für deutsche Maschinen und Automobile auf Rechnung ihrer Steuerzahler einen sehr hohen Preis zu zahlen, und dasselbe gilt, aus teilweise unterschiedlichen Gründen, für die im Bundestag versammelte Opposition. Das Auftreten der AfD in der deutschen Innenpolitik hat dies aber unmöglich gemacht. Da auch der permissive Konsens schon immer daran hing, dass nicht alles, was der Integration dienen sollte, öffentlich bekannt wurde, könnte weiterhin daran gearbeitet werden, die deutschen Zugeständnisse in irgendwelchen technokratischen Tiefseestollen zu verstecken, wozu sich vor allem die EZB gut eignen würde und ja auch schon gute Dienste geleitet hat. Die spätestens mit der Wahl in Griechenland eingetretene Politisierung des Themas macht dies aber von nun an unmöglich. Das absehbare Gezerre um „Wachstumsprogramme“, Schuldenerlasse und Risikovergemeinschaftungen einerseits und Kontroll- und Hineinregierungsrechte andererseits wird unvermeidlich in erbarmungslosem öffentlichem Licht stattfinden, unter Alarm- und Triumphgeschrei, je nach Lage, der AfD in Deutschland und fast aller Parteien in den Schuldnerländern.

Die Europäische Währungsunion hat in kürzester Zeit die deutsche Europapolitik und ihre in Jahrzehnten erreichten Erfolge zunichte gemacht. Wenn jetzt nicht höllisch aufgepasst wird, kann sie auch geostrategisch katastrophale Folgen zeitigen. Offenbar steht Russland bereit, der griechischen Regierung kurzfristig jene Kredite zu gewähren, die ihr von der EU verweigert würden, falls Griechenland den Nerv haben sollte, die Austeritätsvereinbarungen der Vergangenheit („Memorandum“) aufzukündigen – oder die EU ihre Drohung wahrmachen würde, einem reformaversen Griechenland den Geldhahn zuzudrehen. Dasselbe könnte für den Fall eines griechischen Staatsbankrotts oder eines Ausschlusses Griechenlands aus der EWU gelten. Käme es soweit – könnte oder wollte die EU es sich nicht leisten, sich mit Russland erpressen zu lassen – dann ergäbe sich eine so eigen- wie einzigartige Asymmetrie: Ebenso wie die EU, ermuntert durch die USA, im westlichen Vorfeld Russlands, nämlich in der Ukraine, Fuß zu fassen versucht, könnte Russland umgekehrt in Griechenland auf einen Brückenkopf im östlichen Vorfeld Westeuropas hinarbeiten. Jede der beiden Seiten hätte dann in der Einflusszone des anderen ein Fass ohne Boden zu füllen (wobei die Griechen Grund hätten, sich zu wundern, dass Brüssel, Berlin und Co. für die noch ein gutes Stück oligarchischere Ukraine Geld übrig hätten, nicht aber für ein von links regiertes Griechenland). So wie der Westen seinen Arm nach Sewastopol mit seinem russischen Warmwasser-Kriegshafen ausgestreckt hat, könnte dann Russland seinen Arm nach der Ägäis ausstrecken, dem Übungs- und nicht nur Übungsraum der 6. Flotte der USA. Das wäre eine Rückkehr eben zu den geostrategischen Konflikten der frühen Nachkriegsjahre, die zur Intervention britischer Truppen in den griechischen Bürgerkrieg führten. Ein Albtraum.

Mit der Neubildung der griechischen Regierung unter Führung von SYRIZA ist der Augenblick der Wahrheit für eine aus dem Ruder gelaufene, wirtschaftlich, politisch und territorial überzogene, finanzkapitalgetriebene europäische Integrationspolitik gekommen. Die EZB und ihr 1200 Milliarden-Geldproduktionsprogramm hin oder her: die Hühner, in einer amerikanischen Redensart, sind nach Hause gekommen und sitzen nun auf der Stange. Jetzt ist Zeit nicht mehr zu kaufen, sondern nur noch zu verlieren. Damit sich Europa nicht in einen Sumpf multinationaler gegenseitiger Inkriminierung verwandelt, mit offenen Grenzen und jederzeit in Gefahr, von außen endgültig geflutet zu werden, muss das Monstrum Währungsunion abgewickelt werden. Europa als friedlich geteiltes Erbe gemeinsam hervorgebrachter kultureller Vielfalt darf nicht auf dem Altar einer kapitalistischen Einheitswirtschaft und -währung geopfert werden. Die Abwicklung muss sozialverträglich erfolgen, bevor die Atmosphäre dafür zu vergiftet ist. Wie das gehen könnte, muss zum wichtigsten aller europäischen Themen werden. Den Ländern des Südens muss ein weicher Ausstieg ermöglicht werden, vielleicht in einen Süd-Euro, der ihnen keine ihre Gesellschaften zerstörende „Reformen“ abverlangt – und diejenigen, die ihnen am Anfang der Währungsunion Subprime-Kredite ohne Ende aufgeschwatzt haben, müssen dafür ebenso büßen wie die, die gewusst haben, was da ablief, und nichts gesagt haben. An die Stelle des faktischen Goldstandards im Verhältnis zu Nordeuropa muss ein Währungsregime treten, das Flexibilität erlaubt und zugleich Willkür ausschließt. Die Zahl der Ökonomen, darunter Schwergewichte wie der Amerikaner Alan Meltzer, die genau das fordern, ist in letzter Zeit rapide gewachsen. Es wird höchste Zeit, dass die, die etwas davon verstehen, dazu gebracht werden, konstruktiv über die Einzelheiten nachzudenken. Um Mario Draghi zu paraphrasieren: Wir müssen tun, „whatever it takes“ – aber nicht, um den Euro, sondern um Europa zu retten.