Merkur 760/761 (September 2012)
Wir alle ahnen es mittlerweile: Den reichen Demokratien, die von Steuer- zu Schuldenstaaten mutiert sind, steht eine lange und schmerzhafte Rosskur bevor. Austerität ist das Gebot, nicht nur der Stunde, sondern vieler kommender Jahre. Politik unter der Kuratel der Finanzmärkte und ihrer geschäftsführenden Ausschüsse in Gestalt der internationalen Organisationen wie der Europäischen Union oder des Internationalen Währungsfonds heißt Haushaltsausgleich und Schuldenabbau durch Ausgabenkürzung und, zum geringeren Teil, höhere Steuern, diese aber nur für die breite Masse derjenigen, die ihr Geld nicht außer Landes schaffen können. Die Staaten werden schrumpfen und die Märkte als Verteiler von Lebenschancen noch wichtiger werden. Der Abstand zwischen oben und unten wird weiter wachsen, die soziale Unsicherheit ebenso, und vieles von dem, was heute der Staat bereitstellt, werden die Bürger sich morgen privat verschaffen müssen, sofern sie es sich leisten können. Der Staatsumbau des Neoliberalismus wird weitergehen, damit die nächste Generation abzahlen kann, was im »Pumpkapitalismus«[1] des ausgehenden 20. Jahrhunderts längst konsumiert wurde.
Lässt sich das durchsetzen? Wer wird den Bürgern erklären, dass ihre politisch errungenen sozialen Rechte hinter den kommerziellen Rechtstiteln der Besitzer staatlicher Schuldverschreibungen zurückzustehen haben? Wie können Völker dazu gebracht werden, von ihrer demokratischen Souveränität keinen Gebrauch zu machen und auf Jahrzehnte vor allem danach zu streben, sich als gute Schuldner zu erweisen und ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern glaubhaft und langfristig sicherzustellen? Experimente, die das klären sollen, sind im Gang oder beginnen gerade: in Großbritannien und Spanien durch Mehrheitsbeschluss gewählter Parlamente, in Deutschland und anderswo durch verfassungsrechtlich verankerte »Schuldenbremsen «, in Frankreich hinter einem Schleier aus Wahlkampfrhetorik und eingebildeter internationaler Hegemonie.
Am weitesten fortgeschritten erschien eine Zeitlang die griechische und italienische Variante: die Ersetzung gewählter Regierungen durch Vertrauenspersonen der »Märkte«, vorgestellt als sachorientierte und desinteressierte »Experten« des internationalen Finanzwesens und Eingeweihte in ein zu dessen Reparatur erforderliches wissenschaftliches Spezialwissen, dessen sie entweder als Wissenschaftler oder als Funktionäre einer nur dem Allgemeininteresse an einer stabilen Währung verpflichteten unpolitischen Zentralbank teilhaftig geworden sind.
Die Rede ist, natürlich, von Mario Monti und Lucas Papademos. Wieso können beziehungsweise konnten sie regieren, und anscheinend nicht völlig ohne öffentlichen Rückhalt? Mit welcher Legitimität? Ist zu erwarten, dass Expertenherrschaft in schwierigen Zeiten zu einem aussichtsreichen Modell auch für andere Länder werden könnte? Schließlich ist das Ansehen von Politik und politischen Parteien nicht nur in Griechenland oder Italien, sondern überall auf einem Tiefpunkt. Dass da der Gedanke wieder aufkommen konnte, man könne und solle das Hin und Her einer für Leidenschaften und Korruption anfälligen Politik durch rationale Verwaltung ersetzen und Demokratie durch Technokratie, muss nicht verwundern. In der Tat waren Figuren wie Papandreou und seine Vorgänger in Griechenland und Berlusconi in Italien derartig diskreditiert, dass die Erleichterung groß sein musste, als sie endlich verschwunden waren. Nüchternes Handeln statt realitätsverweigernder Parteitagsrhetorik, harte Arbeit statt Bunga Bunga, Wissenschaft statt Illusionen, Wissen statt Interessen – wer wollte etwas dagegen haben, gerade auch in einer sich als solche verstehenden »Wissensgesellschaft«, die so gerne glauben möchte, dass Wissenschaft und Technik, Wissen und Können Lösungen für alle Probleme bereithalten?
Ob dies zutrifft, ist hier nicht das Thema. Vielmehr soll gefragt werden, ob das, was Experten wie Monti und Papademos zu bieten haben, tatsächlich Expertentum ist – und wenn ja, ob dieses wie unterstellt auf wissenschaftlichem Wissen beruht. Sicher ist, dass sich ihr Stil, zweifellos wohltuend, von dem ihrer Vorgänger unterscheidet: keine demagogischen Reden mehr, keine pompösen Aufzüge, schon gar keine Partys in sardinischen Villen. Was Monti angeht, so bezieht er als Ministerpräsident nicht einmal ein Gehalt, und wie seine Pressestelle nicht verschwieg, verbrachte er den Weihnachtsabend im engsten Kreis seiner Familie, bei einem offenbar selbstgekochten Abendessen, für das er vorher zusammen mit seiner Frau einkaufen gegangen war. Aber hat der als »Experte« zum Amt des Ministerpräsidenten Gekommene etwas Neues, besonders Raffiniertes, bis dato niemandem Bekanntes in das Handeln des nun ihm unterstellten Regierungsapparats eingebracht? Nach außen jedenfalls ist, ebenso wie seinerzeit bei seinem Zwilling Papademos, nichts dergleichen zu sehen.
Dass »gespart« werden muss, stand schon vorher fest. Ebenso, wo einzig gespart werden kann: nämlich vor allem bei den Sozialausgaben und Sozialinvestitionen. Auch dass »Wachstum« gebraucht wird, und nicht zu knapp, um aus den Schulden herauszukommen, hatte man schon vorher gehört, und ebenso die Rezepte, wie es trotz Austeritätspolitik und schwindender Nachfrage zustande gebracht werden soll, nämlich durch Deregulierung des Arbeitsmarkts und freien Marktzugang für Taxiunternehmer und Rechtsanwälte – in anderen Worten: das bekannte Arsenal neoliberaler Therapien, ohne einen einzigen Hinweis auf neue theoretische Erkenntnisse, etwa warum eine angebotspolitische Wachstumsstrategie diesmal ausnahmsweise funktionieren sollte, und noch dazu bei gleichzeitig durch eine Politik der Austerität gedrosselter Nachfrage.
Aber vielleicht ist es gar nicht diese Art von Wissen, das die neuen Expertokraten ausmacht, selbst wenn sie einmal Universitätsprofessor waren? In der deutschen Politik haben Parteien und Fraktionen Experten zuhauf – Wehrexperten, Landwirtschaftsexperten, Sportexperten, Umweltexperten, Sozialund Wirtschaftsexperten –, die so heißen, obwohl sie alles andere sind als Generalstabsoffiziere, gelernte Bauern oder studierte Trainingswissenschaftler, Förster, Soziologen oder professionelle Ökonomen. Ihr »Expertentum« liegt darin, dass sie einer politisch wichtigen Interessengruppe nahestehen, zu ihr Verbindung halten und ihr Vertrauen genießen.
Wirtschafts- und vor allem Finanzexperten sind dabei ein besonders interessanter Fall. Vor dem Hintergrund einer in das Alltagsverständnis eingewanderten positivistisch-mechanistischen Wirtschaftstheorie präsentieren sie sich als Teilhaber an einem nur wenigen zugänglichen Geheimwissen, das ihnen beispielsweise verrät, wie man »die Wirtschaft ankurbelt«. Betrachtet man dieses freilich genauer, so stellt sich das, was in ihm in Analogie zu einer robusten newtonschen Himmelsmechanik abgebildet ist, als ein Komplex von hochempfindlichen und machtbewehrten Gewinnerwartungen heraus, die eine Regierung im Kapitalismus verstehen und respektieren muss, wenn es mit »der Wirtschaft« etwas werden soll.[2] Das zeigt sich spätestens dann, wenn die Wirtschaftsexperten aus ihrer technizistischen Ingenieurs- in eine Psychologen- oder Psychiatersprache wechseln und statt von »der Wirtschaft « von »den Märkten« sprechen, die misstrauisch, ängstlich oder gar panisch geworden seien und schnellstens wieder optimistisch gestimmt werden müssten. An dieser Stelle entpuppen sich die selbststilisierten Wirtschafts- und Sozialmaschinisten der Mainstream-Ökonomie als sensible Hermeneutiker des Kapitals, deren besonderes Know-how darin besteht, den Eigentümern von Produktionsmitteln ihre Wünsche von den Lippen abzulesen und sie für den öffentlichen Gebrauch in »Sachzwänge« zu übersetzen.
Um das zu können, bedarf es, neben bestimmten mathematischen Techniken, die man freilich auch dazukaufen kann, stabiler sozialer Beziehungen zu der kleinen Zahl von großen Firmen, die in der ungleichen Welt der Wirtschaft wirklich zählen. Diese ihrerseits sind bestrebt, möglichst viele professionelle Nahesteher zu kultivieren, die, unterstützt von engem sozialem und materiellem Miteinander, die Wünsche und Bedürfnisse »der Wirtschaft « zu verstehen lernen, um sie dann der Außenwelt als wissenschaftlichobjektiv festgestellte naturgesetzliche Sachverhalte darzustellen. Die mir am geeignetsten erscheinende Bezeichnung für diesen durchaus anspruchsvollen Beruf des Vertrauens- und Verbindungsmannes ist die des Kapitalverstehers. Da Kapitalversteher anders als Großaktionäre und Vorstandsmitglieder im Durchschnitt spottbillig sind, kann man sie in großer Zahl rekrutieren, indem man sie zunächst in großer Zahl auf niedrigem Niveau anfüttert, um sie dann entweder auszusortieren oder aufsteigen zu lassen, nach Maßgabe des Geschicks, mit dem sie verstehende Wissenschaft nach innen und mathematisch formalisierte Naturwissenschaft nach außen, mit für beide Seiten nützlichem wissenschaftlichem Reputationsgewinn, gleichzeitig zu betreiben vermögen.
Dass kleine Gruppen gegenüber großen im Vorteil sind, wenn es darum geht, das Handeln ihrer Mitglieder aufeinander abzustimmen, ist eine Trivialität nicht nur der Soziologie, sondern auch der Wirtschaftstheorie.[3] Freilich haben wir uns angewöhnt, insbesondere wenn es um Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Rolle von »Experten« in derselben geht, von dieser Einsicht keinen Gebrauch zu machen, um zu vermeiden, als »Verschwörungstheoretiker « bezeichnet zu werden. Dass diese Bezeichnung heute unter Sozialwissenschaftlern ein karrierebeendendes Schimpfwort ist, ist insofern berechtigt, als offenkundig nicht alles, was in der Welt geschieht, auf der Öffentlichkeit verborgen bleibende Absprachen zwischen einer überschaubaren Anzahl hoch strategiefähiger Machtbesitzer zurückgeht. Allerdings wird der Bannfluch gegen Verschwörungstheorien bedauerlicherweise von vielen dahingehend verstanden, dass es überhaupt keine verschworenen »Machteliten«[4] gibt oder dass man denen, die man dennoch vorfindet, keine Bedeutung zumessen, sie jedenfalls nicht als solche bezeichnen darf.
Dass das ein Fehler ist, und ein gefährlicher dazu, lässt sich am Beispiel des Fast-Nobelpreis-Starökonomen und führenden Wirtschaftsexperten Larry Summers illustrieren. Summers begann als Professor in Harvard und war von 1991 bis 1993 Chefökonom der Weltbank. Ab 1995 war er für vier Jahre stellvertretender Finanzminister in der Clinton-Regierung, von wo er bis zum Amtsantritt des zweiten Bush zum Finanzminister aufrückte. In dieser Zeit war er einer der Chefarchitekten eben jener Deregulierung der Finanzmärkte, insbesondere auch des Derivatehandels, die den globalen Kapitalismus ein knappes Jahrzehnt später beinahe in den Abgrund getrieben hätte. Ab 2001 war Summers für fünf Jahre Präsident der Harvard Universität, bis er wegen einer Reihe von Skandalen, unter anderem wegen Insiderhandels mit russischen Aktien, zurücktreten musste. 2006 wurde er »part-time managing director« eines Hedgefonds, dem seine ökonomische Expertise noch 2008 selbst in Teilzeit nicht weniger als 5,2 Millionen Dollar per annum wert war. Ende 2008, im Jahr der Krise, wurde Summers dann von dem neugewählten Präsidenten Obama, dessen Wahlkampf bekanntlich zum großen Teil von den Finanzhäusern der Wall Street finanziert worden war, zum Direktor des National Economic Council ernannt, wo seine Expertise zur Rettung eben jener Finanzhäuser gebraucht wurde, für deren Rettungsbedürftigkeit sie ein paar Jahre davor die Voraussetzungen mitgeschaffen hatte.
Ein Dreivierteljahr, bevor Summers der Obama-Administration beitrat, am 16. April 2008, flog er an einem Nachmittag von Boston nach New York, um bei Goldman Sachs einen Vortrag zu halten – nichts Ungewöhnliches für einen Experten. Allerdings betrug das Honorar für seinen Auftritt nicht weniger als 130 000 Dollar – erheblich mehr als für einen ähnlichen Termin am 12. November desselben Jahres bei Merrill Lynch, bei dem immerhin noch 45 000 Dollar heraussprangen.[5] Insgesamt bezog Summers im Krisenjahr 2008 »more than $ 2.7 million in speaking fees from several troubled Wall Street firms and other organizations«, ein Vorgang, den der Pressesprecher des Weißen Hauses der Zeitung wie folgt erklärte: »Given that Dr. Summers is widely recognized as one of the country’s most distinguished economists and formerly served as treasury secretary, there was considerable interest in hearing his economic insights from companies across various industries.«
Was mögen diese »insights« gewesen sein? Wer nicht glauben will, dass ein einzelner »Experte« in zwei kurzen Stunden Wissenschaft mit einem Grenznutzen von 130 000 Dollar abzuliefern vermag, oder auch nur von 45 000 Dollar, könnte auf den Gedanken kommen, dass hier in Wahrheit etwas ganz anderes gehandelt wurde. Zurückhaltend ausgedrückt, könnte man von kleinen Geschenken zur Erhaltung einer wundervollen Freundschaft sprechen. Wer es deutlicher liebt, dem fiele ein Begriff wie »antizipatorische Korruption« unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Unternehmensberatung ein. Man wüsste zu gerne, wie viele solche reichentlohnte Expertenvorträge in den Bankhäusern dieser Welt, beileibe nicht nur der Wall Street, täglich stattfinden, mit denen die wissenschaftlichen Politikberater der Zukunft auf Vorrat bei Laune oder mit Abschlagszahlungen auf zukünftige Dienste bei der Stange gehalten werden. Im Englischen stünde hier das Wort »retainer« zur Verfügung, was sowohl Vorschuss bedeutet als auch Faktotum.[6]
Nicht zufällig sind wir auf der Spur von Larry Summers, eines der gemessen an seinem Marktwert größten lebenden Wirtschaftsexperten, auf Goldman Sachs gestoßen, eine der unglaublichsten Organisationen nicht nur des gegenwärtigen Kapitalismus, sondern der gesamten Weltgeschichte.[7] Auch hier geht es um Expertentum, und wiederum gleich in mehrfacher Hinsicht. Als Branchenführer unter den weltweit tätigen Investmentbanken ist Goldman Sachs das Zentrum der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des modernen Kapitalismus. Nirgends werden die Kenner der Kapitalmärkte besser bezahlt, was sie nach deren Logik zu den »best and brightest«[8] ihrer Industrie macht: den »smartest of the smart«. Sie sind es, so wenigstens heißt es, die Goldman Sachs zu einer gigantischen Geldmaschine gemacht haben, angetriebenen von der raffiniertesten Finanzmathematik aller Zeiten, die aus Schulden Geld und immer mehr Geld zu machen vermag: mit über 30 000 Beschäftigten in aller Welt, die im Durchschnitt Jahr für Jahr rund eine halbe Million Euro verdienen, Putzfrauen und Hausmeister eingerechnet.
Das Jagdrevier von Goldman Sachs ist der sich selbst regulierende perfekte Markt der fortgeschrittenen Kapitalmarkttheorie. Den aber gibt es offenbar nicht von selbst, und schon gar nicht umsonst. Selbstregulierend, so möchte man zugespitzt formulieren, ist der Markt aus der Perspektive von Goldman Sachs nur, wenn Goldman Sachs ihn selbst reguliert. Diese Ansicht wurde von den auf Deregulierung gestimmten Regierungen der Vereinigten Staaten, egal welcher politischer Provenienz, seit den neunziger Jahren entschieden geteilt. So überwältigend war und ist die bei Goldman Sachs versammelte Expertise, dass weder Clinton noch Bush noch Obama ohne sie auskommen wollten oder konnten. Die Deregulierung der Finanzmärkte wurde von Clintons Finanzminister Robert Rubin vorangetrieben, der bis zu seiner Ernennung Chef von Goldman Sachs gewesen war; sein Stellvertreter und Nachfolger wurde, wie erwähnt, Larry Summers. Finanzminister unter George W. Bush war seit 2006 Hank Paulsen, einer von Rubins Nachfolgern bei Goldman Sachs; er ließ 2008 Lehman Brothers bankrottgehen, einen der wenigen ernstzunehmenden Konkurrenten seines Stammhauses, und rettete anschließend auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers die Branche, die unter der kombinierten Führung und Aufsicht seiner ehemaligen Bank »too big to fail« geworden war.[9]
Die einzigartige Symbiose zwischen Goldman Sachs mit seinen Experten und dem amerikanischen Staat wirft die Frage auf, woraus eigentlich das besondere Expertenwissen besteht, mit dem das Bankhaus zum Gemeinwohl der Vereinigten Staaten, und damit auch zu unserem, beiträgt. Worin liegt die Wertschöpfung, die den riesigen Gewinnen eines solchen Unternehmens vorausgeht, und wie kommt sie zustande? Unfehlbar sind die Rechenmaschinen des Geldhauses mit ihren geheimnisvollen Algorithmen jedenfalls nicht: War doch Goldman das Flaggschiff jener Armada, die den finanzialisierten Kapitalismus beinahe aus Versehen versenkt hätte. Freilich wird die Sache hier unübersichtlich, und erst künftige Historiker werden uns sagen können, wenn überhaupt, wie es in den Jahren vor und nach der Krise »eigentlich gewesen « (Ranke). War das Versehen vielleicht doch kein Versehen? Goldman Sachs jedenfalls geht es heute wieder so gut wie immer, während die amerikanische Unter- und Mittelschicht und große Teile Europas nach wie vor am Boden liegen. Könnte es sein, dass es in der »Wissensgesellschaft« der Finanzmärkte gar nicht umWertschöpfung geht, sondern um Abschöpfung, und dass es, wenn es drauf ankommt, nicht die neumodischen mathematischen Zaubereien sind, die den Unterschied machen, sondern sehr altmodische Kenntnisse der Staatskunst, einschließlich der Kunst der Wahlkampffinanzierung und der Verhinderung oder Umgehung von Gesetzen?[10]
Die geballte Präsenz der Goldmänner in der amerikanischen Politik, für die sie ja, wenn es mit rechten Dingen zuginge, mit riesigen persönlichen Einkommenseinbußen zu bezahlen hätten, scheint dafür zu sprechen, dass die eigentliche Expertise erfolgreicher Investmentbanken in einer subtilen Verbindung von politischer Kontaktpflege und genauer Kenntnis sowie aktiver Gestaltung aller möglichen Ränder der Legalität im Straf- und Zivilrecht und ihrer Interpretation durch die Aufsichtsbehörden und Staatsanwaltschaften liegt, etwa wenn es um die sehr offene Grenze zwischen legalen Geschäften und »insider trading« geht.[11] Man erinnere sich an die Abacus 2007-AC1-Affäre, als Goldman Sachs ein CDO-Produkt (»Collaterized Debt Obligation«) verkaufte, das seine Händler insgeheim in Zusammenarbeit mit einem Hedgefonds so konstruiert hatten, dass dieser auf dessen Absturz wetten konnte; oder an die zahlreichen Fälle, in denen die Bank ihren Kunden Papiere anbot, gegen die sie selber gewettet hatte, ohne deren Käufer darüber zu informieren.[12]
Hier nun schließt sich der Kreis zum Expertentum der Notstandsregierungen des Mittelmeerraums. Die Experten von Goldman Sachs sind, wie gesagt, global tätig. Als Griechenland Ende der neunziger Jahre durch kreative Buchführung seinen Eintritt in die Europäische Währungsunion und damit seinen Zugang zu praktisch grenzenlosen billigen Krediten sichern musste, waren sie zur Stelle – und dürften an ihrem guten Rat nicht schlecht verdient haben. Lucas Papademos, Wirtschaftsprofessor und von 1994 bis 2002 Chef der griechischen Zentralbank sowie anschließend Vizepräsident der Europäischen Zentralbank, hat sie spätestens bei dieser Gelegenheit kennen und schätzen gelernt. 2002 ging im Übrigen ein gewisser Mario Draghi, Professor an Summers’ Harvard Universität, als Vizepräsident zu Goldman Sachs, wo er Chef der europäischen Niederlassung wurde; dies blieb er bis 2005, um anschließend zum Präsidenten der italienischen Zentralbank berufen zu werden. 2011 wurde er dann von den europäischen Regierungen einstimmig zum Chef der EZB ernannt. Dass dabei niemand seine Goldman-Sachs-Vergangenheit auch nur zur Sprache brachte, muss als Meisterwerk der Diskurssteuerung durch politische »Öffentlichkeitsarbeit« gelten.
Auch der andere »Super-Mario«, der Ende 2011 von der internationalen Finanzdiplomatie als italienischer Ministerpräsident eingesetzt wurde, war in den Kreisen um Goldman Sachs kein Unbekannter. In seiner Zeit als Mitglied der Europäischen Kommission – die 2004 endete, als Berlusconi ihn durch einen seiner Gefolgsleute ersetzte – war es ihm gelungen, den deutschen Privatbanken ihren langgehegten Herzenswunsch nach Zerschlagung ihrer öffentlich-rechtlichen Konkurrenz, der Landesbanken, zu erfüllen, als Kommissar zuerst für »financial services« und dann für den Wettbewerb.[13] Ein Nebeneffekt war, dass die Landesbanken in der für sie von der deutschen Regierung ausgehandelten Gnadenfrist, in Ermangelung eines neuen »Geschäftsmodells «, zu Großkunden der von Goldman Sachs angeführten amerikanischen Schuldscheinindustrie wurden, der sie offenbar blind vertrauten: Jedenfalls galten sie unter den »Experten« der Wall Street als die idealen »sucker«. Nach getaner Kommissionsarbeit landete Monti sanft: unter anderem als »internationaler Berater« bei Coca Cola und, wie nicht, Goldman Sachs.[14] Dies dürfte ihm, nebenbei, seinen Verzicht auf ein Gehalt als Ministerpräsident leicht gemacht haben; 2011 lag sein versteuertes Einkommen bei rund anderthalb Millionen Euro: sehr ordentlich für einen emeritierten Professor.[15]
Müssen wirklich dieselben, die den Wagen an die Wand gefahren haben, als Rettungssanitäter gerufen werden? Die Böcke als Gärtner und die Brandstifter als Biedermänner? Ist das, was sie angerichtet haben, tatsächlich derart, dass nur sie es wieder entwirren können? Oder ist, was als Rettung deklariert wird, in Wirklichkeit eine Schlüsselübergabe an übermächtig gewordene Belagerer, verbunden mit ergebenen Bitten um milde Behandlung? Es trifft zu, dass die meisten nicht durchschauen, was die »Super-Marios « treiben – ob sie uns »retten« wollen oder die, denen sie nahestehen, und ob sie tatsächlich dem Abschöpfen abgeschworen und sich dem Wertschöpfen zugewandt haben. Da es um Geld geht – um Kredite, Zentralbanken, Leistungsbilanzen usw. –, lässt sich die Sache nur allzu leicht durch Verwissenschaftlichung mystifizieren: viel zu kompliziert für Otto Normalverbraucher, mit seiner drei minus in Mathe. So viel von Harvard, Columbia e tutti quanti zertifizierte Brillanz kann nur bewirken, dass man sich geradezu lächerlich vorkäme, wenn man gegen sie auf dem eigenen gesunden Menschenverstand bestünde. Und da es um »Märkte« geht, die bekanntlich jederzeit panisch reagieren können, kann man nicht einmal verlangen, dass die regierenden Experten ihr Tun öffentlich erklären. Geheimhaltung ist alles, denn Geld ist wie ein scheues Reh: Beim leisesten Geräusch läuft es davon.
Allerdings geht es um viel Geld, und da könnte es sich schon lohnen, genauer hinzuschauen. Fragt man nach Mario Draghis raffiniertester strategischer Entscheidung, seinem brillantesten Manöver, so dürften ganz vorne die beiden Kreditprogramme genannt werden, das erste im Dezember 2011 und das zweite im Februar 2012, die die Europäische Zentralbank für die europäischen Banken aufgelegt hat; jedes rund 500 Milliarden Euro schwer, Laufzeit drei Jahre, bei einem Prozent Zinsen und ohne jede Auflage. »Eine Bank müsste man sein«, kommentierte ein Bekannter seufzend. Die erste Tranche wurde denn auch von mehr als fünfhundert Banken erfreut in Anspruch genommen. Angedeutet wurde, dass sie ihr frisches Geld möglicherweise in Staatsanleihen gefährdeter Länder anlegen würden; das würde deren Zinssatz senken, allerdings kaum unter drei Prozent, und damit nicht nur den »Markt«, sondern auch die Banken »stabilisieren«. Allerdings können die Banken mit dem Geld machen, was sie wollen, und Staatspapiere gekauft haben sie anscheinend vor allem in Italien und Spanien, und ausschließlich die ihrer Heimatländer – was sie ein paar Wochen später noch stabilisierungsund damit geldbedürftiger machte als vorher.[16] Ästheten unter den Betrachtern lobten die beiden Programme deshalb auch als elegante Umgehung des für die EZB geltenden Verbots direkter Staatsfinanzierung. Dies würde der Vermutung entsprechen, dass Expertentum im Finanzsektor vor allem im Ausfindigmachen möglichst unangreifbarer Umgehungen rechtlicher Regeln besteht.
Freilich sollte man meinen, dass jedem, der nicht an einer Überdosis Expertenwissen leidet, die beklemmende Ähnlichkeit zwischen der draghischen Ausschüttung von frischgedrucktem Eurogeld an die Finanz- »Industrie« und dem auffallen müsste, was Griechen und Italienern als »Klientelismus« von eben jenen Kreisen vorgeworfen wird, die die diversen Super-Marios als Gouverneure der neuen europäischen Staatenordnung eingesetzt haben. Für sie besteht der Unterschied zwischen Expertentum und Klientelismus offenbar allein darin, an wen das Geld geht – an die Banken und ihre Manager und Aktionäre einerseits oder den kleinen Mann und die kleine Frau andererseits. Das Erstere ist die Rettung, das Letztere das, vor dem gerettet werden muss. Dafür lassen sich Gründe anführen: Schließlich geht es ja um Kapitalismus, und der braucht nun einmal zufriedene Banken, nicht unbedingt zufriedene Bürger. Interessant erscheint, wie selten die zahlreichen »Experten«, die die neue europäische Finanz- und Fiskalpolitik so unentwegt vorantreiben, angesichts der Kühnheit der draghischen Manöver zur Bereicherung der europäischen Geldfrabriken danach fragen, ob eine derartige »Flutung der Märkte«, nach dem Vorbild der Erzexperten Greenspan und Bernanke, nicht zu neuen Blasenbildungen oder zu einer neuen Inflation führen muss.[17]
Wird es den professionellen Kapitalverstehern wie Monti und Draghi gelingen, die in einem kalten Staatsstreich in ihre Hände gefallenen Demokratien lange genug zu anästhetisieren, bis die Operation beendet und der marktkonforme Umbau des demokratischen Kapitalismus vollzogen sein wird? Man darf das bezweifeln. Schon wird in Expertenkreisen beanstandet, dass Monti den einheimischen Parteien und Gewerkschaften zu viele Konzessionen macht, weil er Staatspräsident werden wolle, und Papademos wurde längst durch eine gewählte Regierung abgelöst, um in der Reserve des Marktes auf seinen nächsten Einsatz zu warten.[18] Die Parteien mit ihren Leuteverstehern, »the good, the bad, and the ugly«, erheben wieder ihr Haupt. Die Austreibung der Demokratie aus dem Kapitalismus – die schrittweise Ablösung der keynesianischen Wirtschaftsverfassung der Nachkriegszeit durch eine hayekianische – könnte, allen Super-Marios zum Trotz, auf halbem Wege steckenbleiben. Und endlich, so scheint es, entsteht bei den Wissenden so etwas wie Angst vor der Unvernunft der ungewaschenen Massen, die auf ihren sozialen Bürgerrechten bestehen, obwohl ihnen hundertmal erklärt worden ist, dass sie die nicht verdient haben: Man erinnere sich an die kalte Panik vor der letzten Wahl in Griechenland.
Angst kann, entgegen dem, was das Sprichwort behauptet, ein guter Ratgeber sein. Um sie den gehobenen Kreisen einzujagen, müssen wir zuallererst aufhören, uns von ihren Experten mit ihrer wissenschaftlichen Rhetorik beeindrucken zu lassen. Nur wer diesen den Respekt verweigert, kann hoffen, irgendwann selber wieder respektiert zu werden. Ein guter Anfang wäre, mit dem Geniekult der in das Alltagsverständnis eingewanderten Grenzproduktivitätstheorie zu brechen. Im Jahr 2011, mitten in der Krise, lag die mittlere »Vergütung« der hundert höchstbezahlten Unternehmensführer der Vereinigten Staaten bei 14,4 Millionen Dollar, was dem 320fachen des amerikanischen Durchschnittseinkommens entspricht.[19] Niemand kann das durch »Leistung« verdient haben. So viel mehr als der Durchschnitt kann niemand wert sein. Er oder sie war schlicht und einfach zur rechten Zeit am rechten Ort, als Mitglied der richtigen Clique und zufälliger Nutznießer von Jahrzehnten neoliberaler Reform, die der Selbstbereicherung der Machthaber eines entfesselten Kapitalismus alle institutionellen und moralischen Hindernisse aus dem Weg geräumt haben.
Was die neue Expertokratie angeht, die beauftragt ist, dem Kapitalismus die Demokratie auszutreiben, so wäre es vergeblich zu hoffen, bei ihr etwas mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen auszurichten. Ihr Motto ist ja das Margaret Thatchers und der Kanzlerin: »There is no alternative.« Stattdessen wäre zu wünschen, dass sich das wachsende Gefühl unter den Bürgern Europas, nicht für voll genommen zu werden, deutlicher bemerkbar machte, etwa wenn ihnen erzählt wird, warum Haushaltskürzungen, Sozialstaatsabbau, strukturelle Arbeitslosigkeit und immer prekärere Beschäftigung sein müssen, bei gleichzeitig immer weiter steigenden Einkommen der »Experten « in den Chefetagen der »Wissensgesellschaft«. Die Zumutung, das Absurde glauben zu sollen, geht, wenn sie nicht grade von Gott kommt (»credo quia absurdum«), sondern von anderen Sterblichen, rasch an die Menschenwürde. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich diejenigen, die in Spanien und Portugal gegen die »master narrative« der ihnen verordneten Austerität protestieren, als »indignados« bezeichnen, was im Deutschen als »die Empörten« übersetzt wird, wörtlich aber heißt: die mit Verachtung Behandelten und in ihrer Würde Gekränkten.[20]
Die Wut derer, die sich von den Abschöpfungsexperten des globalen Finanzkapitalismus für dumm verkauft fühlen, könnte vielleicht tatsächlich zu einer politisch aussichtsreichen demokratischen Kraft werden, und zunächst wohl auch nur sie. Die neuen Eliten scheinen sich vor nichts so zu fürchten wie vor ihr, nicht obwohl, sondern weil es alles andere als »vernünftig« ist, sich ohne vorheriges Studium der Zentralbankwissenschaft einfach nur moralisch zu empören. Wenn Vernunft heißt vorauszusetzen, dass die Forderungen der »Märkte« an die Gesellschaft erfüllt werden müssen, und zwar auf Kosten eben jener Mehrheit der Gesellschaft, die von den Jahrzehnten neoliberaler Marktexpansion nichts hatte als Verluste, dann könnte in der Tat allein das Unvernünftige vernünftig sein. Heute gilt die Vorstellung, dass »die Märkte« sich an die Menschen anpassen sollen statt umgekehrt, bei den Experten dieser Welt als geradezu verrückt, und wenn man die Realität so nimmt, wie sie ist, dann ist sie das wohl auch. Realistisch könnte sie aber vielleicht dann werden, wenn sie mit uneinsichtiger Beharrlichkeit immer wieder vorgebracht würde – sodass die Rechner mit ihr rechnen müssten und mit dem unbelehrbar romantischen Bestehen vieler kleiner Leute darauf, nicht für den Rest ihres Lebens die Renditeerwartungen irgendwelcher Schuldscheinvirtuosen und ihrer Eintreibungsexperten bedienen zu müssen.
Fußnoten
[1] Vgl. Ralf Dahrendorf, Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? In: Merkur, Nr. 720, Mai 2009.
[2] Vgl. Wolfgang Streeck, The Crisis of Democratic Capitalism. In: New Left Review, Nr. 71, Sept. / Okt. 2011.
[3] Vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge: Harvard University Press 1971.
[4] Vgl. C. Wright Mills, The Power Elite. Oxford University Press 1956.
[5] Offenbar Summers’ niedrigstes von einer Wall-Street-Bank bezogenes Honorar im Jahr 2008, vgl. Summers Raked in Speaking Fees from Wall Street. In: The Washington Post vom 3. April 2009. Zu dem Vortrag bei Merrill Lynch findet sich im Internet der folgende Kommentar: »It certainly had nothing to do with the fact that a) it was eight days after a Democrat was elected to the presidency; b) Summers had a long history of being one of the key policymakers in Democratic Party politics; and c) Merrill was absolutely not going to survive more than a few more months unless taxpayers forked over another 20 billion or so to cover the giant hole in Merrill’s balance sheet that was, at that time, still being hidden from Bank of America and its shareholders.« Vgl. Obama’s Top Economic Adviser Is Greedy and Highly Compromised.
[6] Natürlich ist Summers kein Einzelfall. Wer wissen will, wie tief sich die Korruption in die hohen Schulen der Standardökonomie bereits eingefressen hat, möge sich den Film Inside Job von Charles H. Ferguson (2010) ansehen.
[7] Die amerikanische Literatur über Goldman Sachs ist mittlerweile nicht mehr überschaubar. Eine gute Einführung bietet der einschlägige Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia. Als hervorragend recherchierte und lesbare Übersicht empfiehlt sich der Artikel von Matt Taibbi, The Great American Bubble Machine. In: Rolling Stone vom 9. Juli 2009.
[8] The Best and the Brightest ist der Titel eines Buches von David Halberstam (1972) über das Versagen der Kennedy-Regierung im Vietnamkrieg. Die Redensart wird heute nur noch ironisch gebraucht, wenn es um das Versagen selbstgefühlter Eliten geht.
[9] Ich muss darauf verzichten, die endlose Reihe von Senatoren, Gouverneuren, Ministern, Regierungs- und Zentralbankfunktionären sowie Vorstandsvorsitzenden anderer Unternehmen auch nur teilweise durchzugehen, die in den letzten zwanzig Jahren aus Goldman Sachs hervorgegangen beziehungsweise dort gelandet sind. Ebenso ist es unmöglich, auch nur eine Auswahl jener Manöver am Rande oder jenseits der Legalität aufzuzählen, mit denen die Bank ihren alle Vorstellungen übersteigenden politischen Einfluss zu nutzen wusste, um ihre Interessen zu schützen. »There’s Joshua Bolten, Bush’s chief of staff during the bailout, and Mark Patterson, the current Treasury chief of staff, who was a Goldman lobbyist just a year ago, and Ed Liddy, the former Goldman director whom Paulson put in charge of bailed-out insurance giant AIG, which forked over $ 13 billion to Goldman after Liddy came on board. The heads of the Canadian and Italian national banks are Goldman alumns, as is the head of the World Bank, the head of the New York Stock Exchange, the last two heads of the Federal Reserve Bank of New York – which, incidentally, is now in charge of overseeing Goldman« (Taibbi 2009). Und das ist nur Goldman Sachs: »All three men who have served as Mr. Obama’s White House chief of staff took private-sector detours through the financial industry: Rahm Emanuel (Wasserstein Perella), William M. Daley (JPMorgan Chase) and Jacob Lew (Citigroup).« Wie gesagt, man traut sich als Sozialwissenschaftler kaum, solche Dinge zu erwähnen, aus Angst, als Verschwörungstheoretiker denunziert zu werden.
[10] Immerhin war Goldman Sachs, wie der Washington Examiner im Februar 2011 berichtete, das Unternehmen, das Obama im Wahlkampf 2008 am stärksten finanziell unterstützt hatte und dessen Chef Lloyd Blankfein 2009 und 2010 nicht weniger als zehnmal (also fast alle zwei Monate!) im Weißen Haus zu Besuch sein durfte.
[11] Vgl. Gretchen Morgenson, Is Insider Trading Part of the Fabric on Wall Street? in der New York Times vom 19. Mai 2012. Morgenson ist eine investigative Journalistin, die als frühere Investmentbankerin wieder und wieder Praktiken an das Licht der Öffentlichkeit bringt, die sich auch der phantasiereichste Normalmensch nicht ausdenken könnte.
[12] Vgl. das am 14. März 2012 in der New York Times veröffentlichte Kündigungsschreiben eines reuigen, ehemals führenden Goldman-Sachs-Managers: »Over the last 12 months I have seen five different managing directors refer to their own clients as ›muppets‹, sometimes over internal e-mail.« »Muppet« hat zwei Konnotationen: Marionette (»puppet«) und dumm (»stupid«).
[13] Vgl. die Doktorarbeit von Daniel Seikel, Der Kampf um öffentlich-rechtliche Banken: Wie die Europäische Kommission Liberalisierung durchsetzt. Universität Köln 2012.
[14] Wo er in sehr guter europäischer Gesellschaft war. »Petros Christodoulou, head of Greece’s debt management agency began his career at Goldman Sachs … António Borges, formerly head of the IMF’s European Department, is a former vice chairman of Goldman Sachs International. Peter Sutherland, former Attorney General of Ireland is a non-executive director of Goldman Sachs International. Karel van Miert, former EU Competition Commissioner, is an ex-international adviser to Goldman Sachs.« (Wikipedia)
[15] Vgl. Birgit Schönau, Schluss mit dem Schlendrian. In: Internationale Politik, Nr. 3, Mai / Juni 2012. Hier kommt dieser Sachverhalt in vornehm-zurückhaltender PR-Sprache zum Vorschein: »So kann jeder Bürger sehen, dass Mario Monti mit 1,5 Millionen Euro in 2011 zwar nicht schlecht verdient hat, mit Silvio Berlusconi und dessen 48 Millionen aber nicht konkurrieren kann. Im Gegensatz zu Berlusconi verzichtet Monti auf sein Gehalt als Ministerpräsident.«
[16] Ende Juni brauchte und erhielt Spanien 100 Milliarden Euro für seine Banken, diesmal nicht von der EZB, sondern aus den Staatskassen, also von den Steuerzahlern. Niemand glaubt, dass das das letzte Mal war.
[17] Eine Ausnahme ist der Artikel The Leaning Tower of Perils von Richard Milne und Mary Watkins in der Financial Times vom 28. März 2012.
[18] So dreht sich das Karussell. Beatrice Weder di Mauro, als Mitglied des deutschen Sachverständigenrats auch eine Expertin, gehörte zu den Autoren des »Rettungsplans« vom Oktober 2011, der vorsieht, den italienischen Zinssatz auf Staatsanleihen mit europäischen Mitteln von sieben auf vier Prozent herunterzusubventionieren. Wie Italien sich auf dieser Grundlage sanieren soll, erklärte sie der Süddeutschen Zeitung vom 14. November 2011: »Italien würde … dennoch einen harten Sparkurs fahren und etwa 4,5 Prozent Primärüberschuss über 25 Jahre erzielen müssen … Machbar ist das.« Ein halbes Jahr später wechselte die Expertin in den Verwaltungsrat der UBS, wo sie nun im Dienste einer jener Banken steht, die der wedersche Rettungsplan auf Kosten der italienischen Rentner hätte retten sollen. Ihr Vorgesetzter dort ist übrigens der vor kurzem zurückgetretene Bundesbankpräsident Axel Weber, auch er ein »Experte«, allerdings nicht aus Cambridge (Mass.), sondern aus Köln.
[19] Vgl. In Executive Pay, a Rich Game of Thrones in der New York Times vom 7. April 2012 mit einer erstaunlichen Sammlung weiterer Obszönitäten. Man muss aber gar nicht so weit blicken und sich lediglich daran erinnern, wie sich der Vorstandsvorsitzende von VW für 2011 ein Gehalt von insgesamt 18,3 Millionen Euro bewilligt hat.
[20] Vgl. den mittlerweile klassischen Aufruf von Stéphane Hessel mit dem Titel Indignez-vous! (Paris: Indigene 2010), auf Deutsch: Empört Euch!, besser aber: »Fühlt Euch entwürdigt und tut etwas dagegen!«