Und wenn jetzt noch eine Krise käme?

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. September 2009

Wie wird Politik im Kapitalismus aussehen, wenn die Krise vorbei sein wird und die Banken und Automobilfabriken wieder privatisiert sein werden? Diejenigen Politiker, die etwas zu sagen haben, mussten in den Monaten seit dem Zusammenbruch des Finanzsystems in Abgründe blicken, von denen sie nie gedacht hätten, dass es sie geben könnte. Die Erfahrungen dieser Zeit – immer neue Hiobsbotschaften, atemlose Hetze von Konferenz zu Konferenz, geheime Verhandlungen mit härtestgesottenen Hilfeerpressern, vertrauliche Briefings durch Beamte mit tief erschrockenen Augen, Pressetermine zum Heucheln von Zuversicht – werden sie nicht vergessen.

Groß geworden ist die heutige Politikergeneration in einer Epoche fast vollkommener Hegemonie des Kapitals und des Marktes. Zwei Jahrzehnte lang hat sie hören müssen, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft am besten gedeihen, wenn Märkte und Unternehmen in Ruhe gelassen werden; dass die Politik für die Wirtschaft nicht die Lösung ist, sondern das Problem; dass es zu freien Märkten keine Alternative gibt. Die meisten haben das am Ende geglaubt und waren ganz froh darüber, für die Wirtschaft nicht mehr verantwortlich sein zu müssen. Während sie sich durch ihre Parteien nach oben arbeiteten, stiegen die Gehälter der Unternehmensvorstände ins Unabsehbare; zugleich nahm das Ansehen von Politik und Politikern immer weiter ab. Manche suchten Zuflucht in eifriger Identifikation mit dem Aggressor: Wenn sie von Henkel und Konsorten als inkompetent gegeißelt wurden, hielten sie beeindruckt den Mund. Als dann die ersten Landesbanken unter der Last ihrer „toxischen Papiere“ zusammenbrachen, widersprachen sie nicht, wenn verbreitet wurde, dass dort eben keine richtigen Banker, sondern nur öffentlich-rechtliche Stümper am Werk gewesen seien.

Dann kam Hypo Real Estate und mit ihr mit kaltschnäuziger Selbstverständlichkeit der Ruf nach Rettung des Kapitalismus durch die Politik. Politiker, deutsche zumal, sind es gewohnt, sich wortreich zerknirscht zu entschuldigen, wenn etwas schiefgegangen ist. Aber bis heute haben sie aus den Banken außer ultimativen Forderungen nach öffentlicher Unterstützung nichts gehört als dröhnendes Schweigen. Wie konnte sich in den Unternehmen des Finanzsektors, geführt von the best and the brightest, auf einmal so viel Schrott anhäufen? Was ist da passiert? Die Eliten der Wirtschaft, so heißt es in den kleinen Kreisen, in denen geredet werden darf, lassen uns allein im Regen stehen: Sie drücken sich. Sie überlassen es der Politik, Erklärungen zu erfinden – wenn sie nicht gerade versuchen, ihr die Schuld zuzuschieben: Schließlich hätten die Staaten versäumt, die Märkte richtig zu regulieren.

So etwas kann nicht ohne Folgen bleiben. Selbst wenn am Ende noch alles gutgeht – keine „verlorene Dekade“ wie in den 1990er Jahren in Japan, keine „verlorene Generation“ wie in den dreißiger Jahren in Amerika und darüber hinaus -, mit dem Vertrauen der Politik in den Kapitalismus wird es auf lange Zeit vorbei sein. Die Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte, sitzt tief und wird bleiben. Liberale Rhetorik wird bei denen, die sich nach zwei Jahrzehnten rapider Liberalisierung zur Rettung und Rechtfertigung des Kapitalismus in Anspruch genommen sehen, nichts mehr ausrichten. Dass die Wirtschaft mehr von Wirtschaft und Politik versteht als die Politik, werden sie nie wieder glauben. Schon gar nicht werden sie noch einmal bereit sein, sich selbst für dümmer zu halten als die Großverdiener in den Vorständen von Daimler oder General Motors.

Auch die Zunft der Ökonomen hat unter dem neuen Misstrauen zu leiden. Die Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewissheit – das eine kann man berechnen, die andere nicht – wird in das Alltagsverständnis eingehen. Politiker, die ihr Handwerk verstehen, haben intuitiv schon immer gewusst, dass man die Zukunft genau dann am wenigsten kennen kann, wenn man sie am dringendsten kennen müsste. Sie werden sich von nun an weniger denn je von den Prognosemaschinen der Wirtschaftsforschungsinstitute beeindrucken lassen. Der gewaltige und teure mathematische Apparat der neoklassischen Wirtschaftstheorie hat die Krise nicht vorhergesehen und hätte sie auch nicht vorhersehen können; noch Ende 2008, als die führenden Politiker das Ungeheuer längst im Anmarsch sahen, war aus den Instituten nur Gutes zu hören. Wohl auch, weil man sich scheute, den mühsam aus der Theorie vertriebenen Interventionsstaat mit neuer Legitimation zu versorgen. John Maynard Keynes‘ abfällige Beschreibung (1937) der ökonomischen Standardtheorie seiner Zeit als Sammlung von „hübschen, netten Techniken“ zur Vorhersage einer unvorhersagbaren Zukunft, „erfunden für holzgetäfelte Vorstandszimmer und einen friedlich regulierten Markt“, entsprach schon immer dem Common Sense der practical men in den Ministerbüros; nach dem Desaster von 2008 werden sie das auch öffentlich erkennen lassen.

Zu Hilfe gerufen zu werden sollte eigentlich dem Selbstbewusstsein zuträglich sein. Aber so einfach ist das hier nicht. Die politische Klasse hat seit der Verkündung der Agenda 2010 im März 2003 der Bevölkerung unter hohem Risiko für sich selbst viel zugemutet: ein verkürztes Arbeitslosengeld, reduzierte Sozialleistungen aller Art, eine verlängerte Lebensarbeitszeit und eine zumindest ernsthaft versuchte Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und Sozialkassen. Die hierfür entwickelte und über Jahre eingeübte Rhetorik der Nachhaltigkeit und der Solidarität mit künftigen Generationen musste 2009 in kürzester Zeit entsorgt werden. Dies gelang auf durchaus erstaunliche Weise: Niemand erinnert sich mehr an sein Gerede der letzten Jahre und wird daran auch vom politischen Gegner nicht erinnert. Dabei hilft das Wahljahr, in dem selbst die Opposition keine Haushaltsgrenzen mehr kennt, sondern nur noch Wähler. Mit einem Mal kann wieder verantwortet werden, was noch vor kurzem als Gipfel der Verantwortungslosigkeit gegolten hätte: ein Defizit von 90 Milliarden, einschließlich Autoprämie für fünf Milliarden. So etwas wie Erleichterung ist zu erkennen: Endlich darf man wieder ja sagen, Politik darf wieder Spaß machen, Regieren wird leichter, das Lustprinzip ist zurück.

Allerdings nur auf sehr kurze Zeit. Alle, die denken können, wissen, dass alles, was jetzt ausgeteilt wird, wieder eingesammelt werden muss – und zum großen Teil von Leuten, die nichts oder vergleichsweise fast nichts bekommen haben. Die Politik, die ihr Geschwätz von gestern vergaß, hat sich nicht nur nicht aus eigenem Antrieb zum Narren gemacht, sondern sie wird es ein weiteres Mal tun müssen. Die Sanierung wird von vorn zu beginnen haben, auf einem höheren Schuldenstand denn je und mit strukturellen Defiziten, die alles Bisherige in den Schatten stellen. Diejenigen, die weiter nach vorne blicken, malen sich schon heute die Herkulestaten aus, die sie nach der Krise werden vollbringen müssen, nicht zuletzt auf besonderen Wunsch der wieder sicher im Sattel sitzenden Wirtschaftsklasse: Steuern erhöhen, wo Steuersenkungen versprochen wurden; Sozialbeiträge heraufsetzen, die man gerade mühsam gesenkt hatte; Frühverrentungen abschaffen, nachdem man sie soeben wieder eingeführt hat – und so weiter.

Dann aber wird die Rhetorik der Agenda-Jahre, desavouiert durch die Rhetorik und Praxis der Krisenbewältigung, unbrauchbar geworden sein. Aufrufe an den kleinen Mann und die kleine Frau, beim Sparen mitzuhelfen und Opfer zu bringen, werden hohl klingen angesichts der ungeheuren Summen, die der Staat in den Tresoren von verlotterten Organisationen wie der Hypo Real Estate zu versenken bereit war: Ein neues Programm zur Frühverrentung von Langzeitarbeitslosen kostet im Vergleich dazu so gut wie gar nichts. Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen. Die heute amtierende Politikergeneration könnte sich bei der Rettung ihrer Verächter in den Vorstandsbüros der Banken verbraucht haben; die nächste Rolle rückwärts, zu einer Konsolidierungsanstrengung, wird sie vielleicht schon ihren Nachfolgern überlassen müssen.

Auch wenn irgendwann Banken wieder 25 Prozent auf ihr Kapital verdienen sollten: Die Wunden, die sich der Staat auf dem Feld der Krisenbewältigung gegenwärtig zuzieht, werden lange nicht verheilen. Dass er den Kapitalismus noch einmal vor sich selbst retten könnte, erscheint auf absehbare Zeit undenkbar. Der schlimmste Albtraum, den ein Politiker heute träumen kann – und den man ihm dringend anraten sollte zu träumen -, wäre eine neue Krise in den nächsten fünf oder zehn Jahren; der zweitschwerste, dass die Krise von heute 2010 überdauern könnte. Allzu viele Kugeln sind nicht mehr im Magazin. Die Rettung muss gelingen, sie muss bald gelungen sein, und sie wird lange nicht wiederholbar sein. Auch deshalb wird sich die Politik nie wieder dazu verstehen können und dürfen, der Wirtschaftsklasse bei der Vermehrung des Kapitals freie Hand zu lassen. Wo Vertrauen verbraucht ist, muss Kontrolle an seine Stelle treten. Ob und wie sie funktionieren kann, weiß niemand.